Wie könnte man dieses dickleibige Buch von Chris Kraus (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen, derzeit vielbesprochenen Matthes-&-Seitz-Berlin-Autorin) einordnen? Agentenkrimi? Zeitgeschichtsroman? Eine hyperbolische Groteske gar? Wäre eine Schublade nötig, gehörte es in meinen Augen in eine Reihe mit Michel Tourniers (als Der Unhold ) im verfilmten Meisterwerk Der Erlkönig. Wie das?
In gewisser Weise haben beide (in Wahrheit unvergleichbaren) Bücher die große Tragödie des 20. Jahrhunderts als Fixpunkt, Stichwort: Täterschaft. Der Protagonist ist hier wie dort ein Ungeheuer, aber ein hochsensibles, poetisch veranlagtes, sogar ein reflektiertes. Die modernen Psychowissenschaften sprechen in solchen Fällen von »dissoziativen Persönlichkeiten«.
Mit Tournier teilt Kraus sowohl die Neigung zu drastischen Bildern als auch die Fertigkeit, sie kunstgerecht zu zeichnen. Kraus ist im Hauptberuf Regisseur, und wer seine großartigen Filme Poll (2010, die romanhaft ausgestaltete Lebensgeschichte von Kraus’ Großtante, der Schriftstellerin und Ehefrau von Horst Lange Oda Schaefer) und Die Blumen von gestern (2016, über einen psychisch kranken Holocaustforscher) gesehen hat, kennt Kraus’ Vorliebe für Hirnschalen und Tötungsszenarien.
Zur Sache: Wir haben eine Rahmenhandlung, die fortlaufend als Erzählstütze des Romans dient. Der greise Lettlanddeutsche Konstantin Solm liegt im Spital neben einem buddhistisch erleuchteten Hippie, dessen Schädel durch Schrauben zusammengehalten wird. Mit dem regelmäßig abzuführenden Hirnwasser düngt Nachtschwester Gerda ihre opulent wuchernden Pflanzen.
Wir schreiben 1974, und der Hippie, ein kiffender Esoteriker, will nicht von seiner Welthaltung lassen, wonach jeder Mensch kernhaft gut und ehrenwert sei – das ideale Gegenüber für Solms Lebensbeichte. Und die hat es in sich. Das zu absolvierende Lesepensum kann sich drastisch erhöhen, falls man geneigt ist, immer wieder nachzugooglen: Ist das historisch stimmig? Gab es diese Person wirklich? Jenes Ereignis? Ja, und immer wieder ja, wenn auch nicht gerade die konkrete Person Konstantin »Koja«Solm.
Koja reüssiert zunächst als als baltendeutscher NS-Jugendführer (seine Pflichtseminare tragen Titel wie »Treu leben! Trotzig kämpfen! Lachend sterben!«), bald wird er vom Geheimnisträger zum Doppel- und Dreifachagenten, wobei Sachlagen, Umstände und Zeitraum – vom Vorkrieg bis zum Kalten Krieg – verzwickter und turbulenter sind, als sie in einer knappen Rezension dargelegt werden könnten. Koja arbeitet für Heydrichs SD, für Himmlers Reichssicherheitshauptamt, er steht nebenbei sowohl dem KGBals auch der Ze-Ih-Ah (wie man damals sagte, wenn man CIAmeinte) zur Verfügung.
Nach Kriegsende spitzelt er zugleich für Reinhard Gehlens Behörde in Pullach und für den konkurrierenden, neu etablierten Verfassungsschutz. Auch mit dem Mossad hat Koja zu tun – er heißt nun Jeremias Himmelreich, unterzieht sich einer kleinen, empfindlichen Operation und spricht bald fließend hebräisch. Kraus legt eine opulente Literaturliste vor, die erweist, daß es sich bei dieser Konstellation keineswegs um ein absurdes Phantasma handelt. Es gab diese Kontinuitäten! Es gab keinen echten Bruch und keinen Elitenwechsel, und wenn es Kraus darum ging, zu zeigen, daß bestimmte Persönlichkeiten innerhalb des Menschengeschlechts wie die Fettaugen in der Suppe immer oben schwimmen, daß, unter welchem System auch immer, das Böse sich gleich bliebt, so ist ihm das vortrefflich und bildkräftig gelungen.
Auch dies: Die Männer im SDbeispielsweise waren nahezu sämtlich »lyrisch gestimmt«, sie waren »hochgebildete Metaphysiker oder Orchestermusiker«; ähnlich wie die Männer in anderen Geheimdiensten hatten sie teils einen feinen Humor, litten unter Liebeskummer, pflegten herzhafte Dialekte, ja, sie menscheln. Kraus nutzt dies nicht zur Beschönigung – im Gegenteil. Um die Erste Allgemeine Verunsicherung von anno 1985 zu zitieren: Das Böse ist immer und überall.
Später: Gustav Heinemann: Ein dermaßen amusischer, phrasendreschender Typ! Oder Strauß: So katholisch! So berechnend! Das kalte Blut ist in mancher Hinsicht überbordend. Anscheinend haben wir es mit einem überaus selbstbewußten Autor zu tun – man bedenke, daß selbst die Bibel einer strengen Redaktion unterlag, wonach apokryphe Schriften ausgesondert wurden. Hier ist offenkundig, welche Stränge und Zutaten ohne Verlust hätten wegfallen können. Manche Nebenlinie überfordert, einige Sequenzen überspannen den Bogen, immer wieder streift das Groteske das Karnevaleske, dann wirkt es, als galoppierten antizipierte Filmbilder (eine Verfilmung ist tatsächlich in Planung) mit der Beschreibung davon. 1200 Seiten sind eine Zumutung, gerade weil man ungefähr 900 davon mit jenem Bedürfnis las: mehr davon!
Chris Kraus Das kalte Blut kann man hier bestellen