Wir dürfen uns den Autor und Journalisten (früher Spiegel, heute taz) Joachim Lottmann als eine Mischung aus Wilhelm Genazino und Maxim Biller vorstellen, neben dem Schreibstil paßt das auch altersmäßig; Lottmann ist Jahrgang 1956. Lottmann sagt von sich, er habe »keine Meinung«.
Sein Alter ego,der Ich-Erzähler seiner Bücher, Johann Lohmer, ist bezüglich des Meinunghabens ambivalent: »Ich sah die Dinge notorisch anders, als es gerade vorgeschrieben war.«Wir nehmen nun lesend teil an Lohmers Erlebnissen rund um den Willkommenssommer 2015 – von Flüchtlingskrise mag er nicht reden, sind ja so tolle junge Menschen! Lohmer hält sich vorwiegend in Wien und Berlin auf, dort stets inmitten des hippen Juste milieu,er ist umgeben von Künstlern, Feuilletonisten und anderen »Kreativen«.
Er kennt Hinz und Kunz in den angesagten Bars und Verlagen; manchen Namen kennt man (Navid Kermani, Matthias Matussek), mancher kommt einem bekannt vor (»Johann«Bessing), andere Promis sind offenkundig pseudonymisiert; bereits das Enträtseln ist ein Spaß für sich!
Lohmers eigene Frau ist feministische Journalistin mit kommunistischer Attitüde. »Sie war und blieb die linksliberale Publizistin und würde es noch sein, wenn im Treppenhaus ihrer Zeitung bereits die Brandbeschleuniger ausgeschüttet würden, von tapferen jungen Helden, die den Propheten rächten.«Nur selten kommt Lottmanns Ironie derart grobkörnig daher. Neigt er zum Zynismus? Lottmann macht aus seinen Beobachtungen, die in weiten Teilen die Armierung der längst etablierten Redege- und ‑verbote innerhalb der Kulturelite sowie empfindliche, asylkriseinduzierte Risse durch Familien und Freundeskreise ins Auge fassen, keine Tragödie, sondern ein heiteres Satyrspiel. Wir lesen hier eigentlich eine aberwitzige Langglosse.
Paradigmatisch der Fall des Partyhengstes, Frauenhelden und Superschriftstellers Peter Schindel, der in Wahrheit anders heißt: Schindel nimmt in bezug auf die islamische Bedrohung kein Blatt vor den Mund. Er argumentiert klug, poltert auch mal los; Florett und Degen, der »Betrieb«liebt diesen Kerl! Aber er ging zu weit:
»Schindel veröffentlichte wenig später einen Essay, in dem er sich wortmächtig gegen Islamophobie aussprach. Seine Lektorin hatte ihm offensichtlich dazu geraten. Ich kannte solche Dinge von mir selbst. Es mußte nicht einmal verlogen sein. Wenn man zu viel Dampf abgelassen hatte, schrieb man einfach das Gegenteil, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Außerdem hatte kein echter Schriftsteller Lust, aufgrund von einmal dahergesagten Dingen Nachteile beim Schreiben zu bekommen. Und die hätte es gegeben. Der linke Mainstream hatte sich in der Flüchtlingsfrage stärker und schneller radikalisiert als der rechte Stammtisch. Wer das Wort ›Flüchtlinge‹ öffentlich in den Mund nahm und nicht umgehend auch ›Hurra‹ schrie, war medial erledigt.«
Die taz hat ein Interview mit Lottmann geführt, in dem es auch um die Frage ging, weshalb das Buch nicht wie geplant »Der Zweite Faschismus« titele. »Was ist da passiert? Ist der Islam doch nicht der Faschismus des 21. Jahrhunderts? Ist es alles Lüge, so etwas zu behaupten?«Ob dem linksliberalen Verlag das Thema »Islamfaschismus zu heiß«geworden sei? Lottmann vielsagend: »Natürlich. Keine Ahnung. Kein Kommentar.«
Typisch Lottmann, aus diesem Bekenntnis zur klaren »Nichthaltung«gleich wieder loszufeuern, gegen jene »muffigen, weißhaarigen Gutmenschen«, die auf unkündbaren Positionen sitzen und selbst nie eine »Konfrontation der Kulturen«am eigenen Leib erfahren haben:
»Man könnte umsteuern, Zeit ist dafür genügend da. Tun wir es nicht, werden künftige Generationen in einem reaktionären, frömmelnden Deutschland leben, das geistig so tot ist wie das Dritte Reich. Alles, wofür Linke, Frauen, Arbeiter, Künstler jahrhundertelang gekämpft haben, gibt es dann nicht mehr. Mit den Evangelikalen übrigens vorneweg. Diese abscheuliche Brut räkelt sich ja allerorten. Aber die darf man wenigstens Scheiße finden, während man den Islam ›respektieren‹ muß.«Man liest diese Windungen mit dem größten Vergnügen! Sein Buch hat Lottmann Michel Houellebecq gewidmet.
Joachim Lottmanns Alles Lüge kann man hier bestellen