Lorenz Jäger: Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten

Lorenz Jäger: Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten, Berlin: Rowohlt 2017. 400S. 26.95€

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

»Bei Schwin­del­an­fäl­len hilft in der Regel lan­ges Fla­nie­ren mit dem hung­ri­gen und beflü­gel­ten Engel des Gesangs« –

Was die ver­ges­se­ne rus­si­sche Avant­gar­dis­tin Anna Rad­lo­wa 1921 in einem expres­sio­nis­ti­schen Gedicht dun­kel aus­drück­te, ist in Wal­ter Ben­ja­mins Leben kla­rer gezeich­net. Für Ben­ja­min, 1892–1940, den jüdi­schen Phi­lo­so­phen, Mar­xis­ten, Kunst­kri­ti­ker und eng mit der Frank­fur­ter Schu­le Ver­bun­de­nen, gilt alles dies: Ihn schwin­delt ange­sichts der Moder­ne, er behilft sich tech­nisch mit lan­gem Fla­nie­ren – und ist stets beglei­tet von einem Engel, wie Lorenz Jäger an sei­nen Tex­ten und Brie­fen immer wie­der ent­de­cken kann.

Das ist für ein Kind des 20. Jahr­hun­derts durch­aus rück­wärts­ge­wandt. Jäger: »Es gibt nicht nur den meta­phy­si­schen und den mar­xis­ti­schen Ben­ja­min, er selbst moch­te sich damals eher als Feen­kö­nig erschie­nen sein.« Jäger ver­mag den Feen­kö­nig ernst zu neh­men, weil er die »Bil­dungs­zeit der intel­lek­tu­el­len Extre­mis­men« wie ein Pan­op­ti­kum beob­ach­tet. In der Tat hat­te Wal­ter Ben­ja­min am Geor­ge-Kreis, am Deutsch­na­tio­na­len, am Zio­nis­mus, am Bol­sche­wis­mus, an deut­scher und jüdi­scher Mys­tik, am Mar­xis­mus-Leni­nis­mus und am Dada­is­mus sei­ne Antei­le. Doch es ist kein rein ästhe­ti­sches Panoptikum.

Wenn Ben­ja­min in sei­nem frü­hen Text »Zur Kri­tik der Gewalt« den anti­ken und alt­tes­ta­men­ta­risch-jüdi­schen Mythos als ent­süh­nen­de Ver­nich­tung begreift, dann nimmt sein Bio­graph das Stich­wort der »Ver­nich­tung« als dräu­en­des zeit­his­to­ri­sches Mene­te­kel auf: »Das Ver­häng­nis kann begin­nen.« Ben­ja­min ist selbst ein »Engel der Geschich­te«. Die so beti­tel­te Zeich­nung von Paul Klee beschrieb er 1940, die­ser Engel hat sein Ant­litz der Ver­gan­gen­heit zuge­wandt, einer Kata­stro­phe von Trüm­mern über Trümmern.

In den frü­hen 1920er Jah­ren über­nimmt Ben­ja­min vom Zio­nis­ten Oskar Gold­berg einen revo­lu­tio­nä­ren Mes­sia­nis­mus, das Reich Got­tes soll­te sich durch­aus schon als­bald im irdi­schen Isra­el ver­wirk­li­chen. Die welt­li­chen Glücks­hoff­nun­gen ver­bin­den einer­seits Ben­ja­mins Juden­tum mit dem Bol­sche­wis­mus, ande­rer­seits ist er hin- und her­ge­ris­sen zwi­schen sei­nem Freund und Leh­rer Gers­hom Scholem, der ihn nach Paläs­ti­na locken will, und sei­ner bol­sche­wis­ti­schen Gelieb­ten Asja Lacis, die Mos­kau für den ein­zi­gen einem fort­schritt­lich den­ken­den Men­schen ange­mes­sen Ort auf Erden hält. Der Ein­fluß von intel­lek­tu­el­len Gelieb­ten auf zart­be­sai­te­te Engels­ge­mü­ter darf nie­mals unter­schätzt wer­den. Bei­na­he hät­te Asja Lacis es geschafft, ihrem Wal­ter die Zau­be­rei zuguns­ten des Mate­ria­lis­mus auszutreiben.

Was spä­te­re mar­xis­ti­sche Leser ab den 1970er Jah­ren an Ben­ja­min so fas­zi­niert hat, war eigent­lich nur die hal­be Wahr­heit: der Ver­lust der »Aura« des tech­nisch repro­du­zier­ba­ren Kunst­werks, der Vor­rang der pro­sa­ischen Kunst­kri­tik vor dem poe­ti­schen Werk, das mate­ria­lis­tisch-dia­lek­ti­sche Augen­merk auf der Waren­welt als »ver­ge­gen­ständ­lich­tem Traum«, über­haupt die Indienst­nah­me der avant­gar­dis­ti­schen Kunst für die pro­le­ta­ri­sche Revo­lu­ti­on. Die vor­lie­gen­de Bio­gra­phie ist wohl­tu­en­der­wei­se kei­ne impli­zi­te Rezep­ti­ons­ge­schich­te, auch beim Rück­pro­ji­zie­ren von his­to­risch Zukünf­ti­gem inner­halb des Ben­ja­min­schen Lebens hält er sich mit Mühe zurück (bei der oben erwähn­ten »Ver­nich­tung« gibt er kurz nach).

Um den frü­hen mes­sia­ni­schen Zau­be­rer zu ver­ste­hen und war­um immer wie­der der Mate­ria­lis­mus ihn anficht, blickt Jäger aus den frü­hen 1920ern auf Ben­ja­mins »Kunst­werk-auf­satz« von 1936, in dem davon die Rede ist, daß ästhe­ti­sche Begrif­fe geschaf­fen wer­den müs­sen, die »für die Zwe­cke des Faschis­mus voll­kom­men unbrauch­bar sind«, wäh­rend die roman­ti­schen Leit­be­grif­fe Genie, Schöp­fer­tum, Stil und Ewig­keits­wert kor­rum­piert seien.

Ador-no ließ bis zuletzt Ben­ja­min sei­nen laten­ten Arg­wohn spü­ren: er zei­ge noch »Sym­pto­me der archai­schen Befan­gen­heit«, sein Den­ken sei »noch nicht durch­dia­lek­ti­siert«. Man merkt beim Lesen, auch wenn sich der Bio­graph kon­se­quent dezent der Par­tei­nah­me ent­hält, hier doch ein erleich­ter­tes Auf­seuf­zen: Na, zum Glück noch etwas archai­sche Befan­gen­heit! Ben­ja­min ent­schließt sich 1940, in die USA­zu emi­grie­ren. Er ver­sucht, über Spa­ni­en aus Frank­reich zu flie­hen, war­tet an der Gren­ze aber ver­geb­lich auf sein Visum. Ange­sichts der dro­hen­den Aus­lie­fe­rung an die Gesta­po nimmt sich Wal­ter Ben­ja­min mit einer Über­do­sis Mor­phi­um in dem spa­ni­schen Grenz­ort Port Bou das Leben. Sein Lebens­en­de ist – Jäger kom­po­niert die­se Sze­ne selbst dich­te­risch – eine Him­mel­fahrt. Der deut­sche Jude hat­te von einem Domi­ni­ka­ner­pa­ter ein Emp­feh­lungs­schrei­ben auf die Flucht mit­be­kom­men, so daß der Pries­ter von Port Bou dar­auf bestand, ihm die Letz­te Ölung zu geben. Mön­che, Lita­nei­en sin­gend, beglei­ten den mit­tel­lo­sen jüdi­schen Ex-Bol­sche­wis­ten auf sei­nem letz­ten Weg. Man kann wei­ter­spin­nen: Der Engel fährt auf zu seinesgleichen.

Ein fabel­haf­tes Buch.

Lorenz Jägers Wal­ter Ben­ja­min kann man hier bestel­len.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)