Robert Gerwarth: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München: Siedler 2017. 480 S. 29.99 €
Der Autor, bereits mit einem Buch zum Bismarck-Mythos und einer vielgelobten Heydrich-Biographie hervorgetreten, untersucht in seinem neuen Werk die blutigen Auseinandersetzungen nach dem Ersten Weltkrieg, die in Folge des Zusammenbruches des Deutschen Reiches, der Habsburger Monarchie, des zaristischen Rußlands und des Osmanischen Reiches entbrannten. Die territoriale Umgestaltung des Kontinents, ausgeheckt von den siegreichen Entente-Staaten in Versailles, stürzte das alte Machtgefüge, das Europa seit dem Wiener Kongreß 1815 Stabilität gebracht hatte, ins Chaos. Der Nationalismus, der bereits 1914 in Sarajewo den Zündfunken ins Pulverfaß geschleudert hatte und bisher eingehegt werden konnte, brach sich nun unkontrolliert Bahn. Zahlreiche neue Staaten entstanden in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan, der Nahe und Mittlere Osten wurde unter den Kolonialmächten England und Frankreich neu aufgeteilt. Ergebnisse dieser Umwälzungen waren Bürgerkriege, Pogrome und Massenvertreibungen, die Millionen Menschenleben kosteten.
In vier Teilen analysiert Gerwarth die Geschehnisse der Jahre 1917 bis 1923 – vom Sturm auf das Winterpalais in Petrograd bis zum Vertrag von Lausanne über das Staatsgebiet der Türkei – aus der Sicht der Kriegsverlierer sowie der Mitsieger zweiter Klasse Griechenland und Italien, die sich um die Früchte ihrer Kriegsteilnahme betrogen fühlten. Der Verfasser bricht mit der bisherigen Praxis der Historiker, in den untergegangenen Reichen der Hohenzollern und Habsburger Schurkenstaaten zu stehen, zu denen sie die blindwütigen Sieger in Versailles gestempelt hatten. Die neue politische Ordnung stellte sich als ein Machtungleichgewicht heraus, das viel konfliktträchtiger war als die Situation von 1914.
1918 schied mit dem Frieden von Brest-Litowsk Rußland als Kriegspartei aus. Die Mittelmächte suchten in einer allerletzten, erfolglosen Kraftanstrengung an der Westfront sowie in Venetien, den Krieg siegreich für sich zu beenden. Die Reise Lenins aus seinem Schweizer Exil über deutsches Gebiet nach Rußland hatte zum Oktoberputsch der Bolschewiki 1917 geführt – der Auftakt zum Kampf zwischen Roten und Weißen und zur Abspaltung zahlreicher Völker vom Mutterland. Auch die aus der Konkursmasse Österreich-Ungarns hervorgegangenen Staaten wurden von Aufständen und Revolutionen heimgesucht.
Das in Wilsons 14 Punkten postulierte Selbstbestimmungsrecht der Völker förderte nicht die Ausbreitung der Demokratie, sondern brachte autoritäre Regime in Finnland, im Baltikum, in Polen, Ungarn und Jugoslawien an die Macht. Die junge deutsche Republik wurde von inneren Unruhen und Putschen geschüttelt. Die Türkei mußte sich wie Sowjetrußland gegen ausländische Interventionen zur Wehr setzen und versuchte, mit »ethnischen Säuberungen«, die vor allem Griechen und Armenier betrafen, vermeintliche Unruhestifter loszuwerden. Ähnlich agierte das unter der Ägide der Mittelmächte 1916 wiedererstandene Polen, das bei Kriegsende mit Truppen in die preußische Provinz Posen einrückte und darüber hinaus versuchte, Ostpreußen, Danzig und Oberschlesien zu annektieren, und das nach einem Krieg mit Rußland Teile Litauens, Weißrußlands und der Ukraine erwarb. Rund eine Million Deutsche wurden vertrieben, und die rücksichtslose Polonisierungspolitik Warschaus sollte den Freiheitsdrang aller völkischen Minderheiten im Land ersticken.
Gerwarths Sicht auf die Jahre nach 1918 ist nicht neu. Im wissenschaftlichen Diskurs der Zwischenkriegszeit gerade bei den Kriegsverlierern wurde oft auf die wenig friedvollen Folgen der Pariser Verträge hingewiesen. Dokumenteneditionen der Unterlegenen widerlegten die Behauptung der Sieger, allein die Mittelmächte seien verantwortlich für den Ausbruch des Weltkrieges gewesen. Leider kann der Autor sich nicht ganz von einer Betrachtungsweise ex postfreimachen. Obwohl es in den 1930er Jahren warnende Stimmen gab und der 30. Januar 1933 als Zäsur wahrgenommen wurde, sahen politische Beobachter Deutschland nicht auf Kriegskurs.
Die Zeitgenossen – auch in den früheren Entente-Staaten – deuteten anfangs die Schritte zur Revision der Nachkriegsordnung durch Hitler – Einführung der Wehrpflicht, Besetzung des Rheinlandes, Anschluß Österreichs – als Beseitigung alten Unrechts und nicht als Vorbereitung auf einen neuen Weltkrieg. Die heute vehement kritisierte Appeasementpolitik der damals Verantwortlichen in London und Paris war in ihren Augen vielmehr der Versuch, alte Fehler wiedergutzumachen und Deutschland als gleichberechtigtes Glied im Konzert der europäischen Mächte anzuerkennen.
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