Matthias Stangel/Kristof Niese (Hrsg.): Zwischen allen Stühlen. Grenzgänger im 20. Jahrhundert, Augsburg: Wißner-Verlag 2017. 219 S., 19.90 €
»Zwischen allen Stühlen«und »Grenzgänger«sind ziemlich abgedroschene Formeln, auf die man im 20. Jahrhundert fast alles und jeden reduzieren kann. Zwischen allen Stühlen haben die Deutschen seit 1871 (seit 1918 mußten sie sogar knien) gesessen. Grenzgänger haben wir durch die radikalen politischen Einschnitte seit 1918 einige hervorgebracht, weil Sturheit im Zweifel tödlich sein konnte. Nun kann mit Grenzgänger jemand bezeichnet werden, der sich nicht festlegt, oder einer, dessen Weltanschauung nie in die notwendige Schablone paßte und der deshalb nie so richtig dazugehörte und deshalb immer zwischen allen Stühlen saß. Im vorliegenden Band geht es um zwei dieser Personen, die jeweils, immer anders, daneben lagen.
Ernst Niekisch ist ein typisches Produkt der Nachkriegswirren, der sich erst auf der linken Seite verortete, in München Revolution machte und der schließlich zum Nationalbolschewisten wurde, die 1933 bekanntlich nicht reüssierten. Der Historiker Matthias Stangel schildert Niekischs nationalbolschewistischen Kampf gegen die Weimarer Republik und den Versailler Vertrag, den er nach 1933 nahtlos fortsetzte, was ihn für lange Jahre ins Zuchthaus brachte. In der DDRerblickte er dann das bessere Deutschland und belehrte die Deutschen über ihre Daseinsverfehlung. Als er die Nation 1953 auch hier verraten sah, ging er nach WestBerlin, wo er mit den Neuen Linken liebäugelte, denen dieser Widerständler zunächst willkommen war, bis ihnen dämmerte, daß dieser Widerstand schon vor 1933 begonnen hatte, was die mittlerweile arrivierten Linken zur Verstoßung veranlaßte, so daß Niekisch heute sein Leben als Teil von Mohlers Konservativer Revolution fristet.
Mit solch einer aufregenden Geschichte kann Ernst Nolte, dem sich der Historiker Gerrit Dworok widmet, nicht mithalten. Nolte war zum einen ein fachwissenschaftlicher Grenzgänger, der als studierter Philosoph und Altphilologe zur Geschichtsprofessur kam und dieser Zunft neue ideengeschichtliche Perspektiven eröffnete. Dabei wurde aus dem Heidegger-Schüler zunächst ein Konjunkturlinker, der mittels eines linken Kampfbegriffs, des Faschismus, den Ideologien der Zwischenkriegszeit zahlreiche Bücher widmete. Was ihn plötzlich auf der falschen Seite stehen ließ, war das Aussprechen einer schlichten Wahrheit: Daß es zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus, genauer: zwischen Kulaken- und Judenverfolgung einen »kausalen Nexus«gab. Das hat ihn zum wissenschaftlichen Paria gemacht, der heute wie Niekisch nur noch auf einer Seite Gehör findet.
Weitere Aufsätze des Bandes widmen sich der Verwendung des Faschismus-Begriffs im Kursbuch(dem Zentralorgan der Neuen Linken) der 1960er und 1970er Jahre, dem Humor im Dritten Reich (hier wird mit dem Mythos aufgeräumt, daß einen jeder politische Witz ins KZgebracht hätte), der Bedeutung der nationalen Frage bei der Gründungsgeneration der Grünen, der Rechtswissenschaft und Rechtsprechung im 20. Jahrhundert (Grenzgang zwischen Naturrecht und Rechtspositivismus) und der deutschen Elektroindustrie am Beispiel der Familien Siemens und Rathenau, die jeweils unterschiedliche Strategien verfolgten und erfolgreich waren. Der Ertrag der Beiträge zum Thema des Bandes bleibt, so lesenswert sie teilweise sind, bescheiden, was nicht zuletzt der floskelhaften Themenstellung selbst geschuldet ist. Mit Niekisch und Nolte sind aber zwei Typen vertreten, denen in Zukunft wieder mehr Aufmerksamkeit zuteil werden wird, weil ihre Grenzgänge (Nation und soziale Frage, Geschichte und Geschichtspolitik) vitale Zukunftsinteressen des deutschen Volkes berühren.
Matthias Stangels und Kristof Nieses Zwischen allen Stühlen kann man hier bestellen.