Wer im Vorwort zu einem Buch, das sich mit einem Phänomen der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg widmet, zweimal das Wort »rechtsextrem«verwendet, kann eigentlich nicht als satisfaktionsfähig bezeichnet werden. Zumal dann nicht, wenn er damit den Maler Fidus charakterisieren möchte. Daß man die Lektüre dennoch wagt, liegt an einem objektiven Mangel, den das Buch beheben möchte. Zur Lebensreformbewegung, die spätestens seit der Reichs-einigung von 1871 den durch die moderne Zivilisation verursachten Schäden abhelfen wollte, liegen zahllose Einzeluntersuchungen zu verschiedenen Strömungen, Akteuren und Regionen vor. Es gibt auch ein hervorragendes Handbuch, und mit dem zweibändigen Ausstellungskatalog von 2001 sind alle ikonographischen Ansprüche erfüllt. Was es jedoch nicht gibt, ist eine knappe Gesamtdarstellung, die wissenschaftlichen Ansprüchen genügt. Die wollte der Volkskundler und Sporthistoriker Bernd Wedemeyer-Kolwe ausdrücklich abliefern.
Der Autor bemängelt eingangs, daß sich in der gegenwärtigen Literatur zum Phänomen eine begriffliche Beliebigkeit breit gemacht habe, die jegliche Ausformungen des Geistes nach 1871 der Lebensreform zuschlüge und diese bis in die Gegenwart verlängere. Er beschränkt sich daher auf die Themen der »Selbstreform«: Ernährung, Naturheilkunde, Körperkultur sowie Siedlung, und konzentriert sich dabei auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. So naheliegend diese Herangehensweise auf den ersten Blick sein mag, so wenig kann sie erklären, was uns bis heute an dieser Bewegung fasziniert. Denn die Themenfelder, die Wedemeyer aufmacht, können ja mittlerweile als Mainstream gelten: Wir essen morgens Müsli, bekommen in jeder Drogerie Hausmittel gegen Erkältung, gehen ins Fitneßstudio und haben eigentlich nur beim Siedeln Defizite, die sich recht leicht erklären lassen.
Das Faszinosum hat aber andere Ursachen: Zum einen liegt es in der Konsequenz, mit der einzelne Ernst gemacht haben mit ihren Überzeugungen, und zum anderen ist es die geistige Freiheit vieler dieser Leute, die der Massenkultur etwas entgegensetzen wollten. Nicht zuletzt ist in der Lebensreformbewegung das kulturkritische Moment des deutschen Geistes manifest geworden. Bei Wedemeyer stehen alle geistigen Bezüge unter Ideologieverdacht, egal ob links oder rechts, weil sie natürlich Reserven gegen den westlichen Rationalismus und die demokratische Gleichschaltung der Gesellschaft artikuliert haben. Er richtet seinen Blick lieber auf Skurrilitäten, um sie der Lächerlichkeit preiszugeben.
Wedemeyer, der sich viel auf seine begriffliche Schärfe zugute hält, ist selbst in vielem inkonsequent und muß es sein, eben weil er die Dimension des Geistigen notorisch mißachtet. Neben kleineren Fehlern (Friedrichshagen war ganz sicher keine Siedlung, die Neue Gemeinschaft auch nicht, und die war auch nicht in Friedrichshagen) stören einige Redundanzen. Merkwürdig ist auch, daß Wilhelm Stapel, dessen Spott über manche Auswüchse (völkischer Weltanschauung oder konsequenten Vegetarismus’) Wedemeyer des öfteren zitiert, hier als Satiriker und Journalist auftaucht. Entweder ist Wedemeyer liberaler als sein Buch vermuten läßt, oder er weiß nicht, wer Stapel ist (seiner Klassifikation nach sicher ein Rechtsextremer). Zuletzt: Wenn das Buch als wissenschaftlicher Einstieg gedacht sein soll, als das es nicht taugt, wäre es sinnvoll gewesen, statt der alphabetischen Literaturliste, die Quellen nicht von Literatur scheidet, eine kommentierte und thematisch gegliederte Bibliographie abzudrucken.
Bernd Wedemeyer-Kolwes Aufbruch kann man hier bestellen.