Julian Barnes: Der Lärm der Zeit

Julian Barnes: Der Lärm der Zeit,  Roman, übersetzt von Gertraude Krueger, Köln: Kiepenheuer&Witsch 2017. 256 S., 20

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Im Mai 1937 war­te­te ein Mann jede Nacht neben dem Fahr­stuhl sei­ner Lenin­gra­der Woh­nung dar­auf, von der Geheim­po­li­zei abge­holt zu wer­den. Er woll­te sei­ner Fami­lie den Anblick sei­ner Ver­haf­tung erspa­ren, den Schock, den Ehe­mann und Vater hilf­los der Will­kür frem­der Män­ner aus­ge­setzt zu sehen. Selbst, wenn er sich hät­te weh­ren wol­len, er hät­te es nicht ver­mocht: zu schmäch­tig, zu unsi­cher, zu musisch – es war der Kom­po­nist Dmi­t­ri Schost­a­ko­witsch, und es war aus ihm »ein Mann gewor­den, der wie hun­dert ande­re in der Stadt Nacht für Nacht auf sei­ne Ver­haf­tung war­te­te«.

Der bri­ti­sche Schrift­stel­ler Juli­an Bar­nes (1946 gebo­ren, viel­fach aus­ge­zeich­net) hat unter dem Titel Der Lärm der Zeit Schost­a­ko­witschs Leben in einen knap­pen Roman gefaßt. Er geht nicht chro­no­lo­gisch vor (das Buch ist kei­ne Bio­gra­phie), son­dern ver­dich­tend und epi­so­disch: Was ist wesent­lich am Leben die­ses wohl berühm­tes­ten rus­si­schen Kom­po­nis­ten des 20. Jahr­hun­derts, der (gebo­ren 1905, gestor­ben 1975) sein Werk tat­säch­lich aus­nahms­los in der sowje­ti­schen Ära schuf? Wie ist das mit dem Ver­hält­nis von Macht und Kunst? Von Unter­drü­ckung, Will­kür und Pro­pa­gan­da auf der einen, Auf­trags­kunst, Abhän­gig­keit und Selbst­ver­ständ­nis des Künst­lers auf der ande­ren Seite?

»Schrieb er, wie es sei­ne Ver­leum­der von ihm ver­lang­ten, für den müde von der Schicht heim­keh­ren­den Berg­mann aus dem Don­bass, der eine wohl­tu­en­de Stär­kung braucht? Nein. Er schrieb Musik für die, die sei­ne Musik am bes­ten zu wür­di­gen ver­stan­den, egal wel­cher gesell­schaft­li­chen Her­kunft sie waren.«

Das mag Schost­a­ko­witschs Selbst­ver­ständ­nis gewe­sen sein, aber das zähl­te vor der Macht nicht viel, denn sie war auf der Suche nach dem »roten Beet­ho­ven« und blick­te dabei natür­lich auch in sei­ne Rich­tung. Schost­a­ko­witsch aber trug seit 1936 einen Makel, der den Künst­ler in jeder sei­ner Äuße­run­gen zu einer exis­ten­ti­el­len Ent­schei­dung zwang: Was könnte erneut miß­ver­stan­den wer­den oder Zei­chen von Rück­fäl­lig­keit sein oder zur Reha­bi­li­tie­rung bei­tra­gen oder den Gip­fel der Selbst­ver­leug­nung, mit­hin des Ver­rats an der Kunst markieren?

Der Makel bestand dar­in, daß Sta­lin einer Auf­füh­rung der beim Publi­kum sehr belieb­ten Oper Lady Mac­beth von Mzensk bei­wohn­te, als­bald aber die Kon­zen­tra­ti­on ver­lor, spöttisch die Ner­vo­si­tät des Orches­ters kom­men­tier­te und samt sei­ner Entou­ra­ge noch vor dem 4. Akt die Regie­rungs­lo­ge verließ.

Am nächs­ten Tag las Schost­a­ko­witsch unter der Über­schrift »Cha­os statt Musik«, daß er mit sei­ner »zap­pe­li­gen, neu­ro­ti­schen Musik den per­ver­sen Geschmack der Bour­geoi­se kit­zel­te«. Dies muß­te, wer zu lesen ver­stand, als Todes­stoß für die Oper lesen, viel­leicht sogar als Todes­ur­teil für den poli­tisch unzu­ver­läs­si­gen Künst­ler, wenigs­tens aber als Hin­weis, daß es ab sofort um Bewäh­rung und Bekennt­nis gin­ge: Man woll­te den »opti­mis­ti­schen Schost­a­ko­witsch«, die­sen »Wider­spruch in sich«, wie Bar­nes es den Kom­po­nis­ten sagen läßt, der die­sen kata­stro­pha­len Wen­de­punkt sei­nes Lebens bra­chi­al zum Aus­druck brach­te: »Das War­ten auf die Exe­ku­ti­on ist eines der The­men, die mich mein Leben lang gemar­tert haben, vie­le Sei­ten mei­ner Musik spre­chen davon.«

Schost­a­ko­witsch ließ sofort sei­ne 4. Sym­pho­nie in der Schub­la­de ver­schwin­den und setz­te sei­ne 5. auf, deren Marsch­fi­na­le als Ver­herr­li­chung des Regimes gedeu­tet wur­de. Zwi­schen­zeit­lich waren sei­ne Schwes­ter nach Sibi­ri­en ver­bannt und sein Schwa­ger ver­haf­tet wor­den. »Was in der Fünf­ten vor­geht, soll­te mei­ner Mei­nung nach jedem klar sein. Der Jubel ist unter Dro­hun­gen erzwun­gen«, notier­te Schost­a­ko­witsch in sei­nen Memoi­ren. Bar­nes wägt der­lei Selbst­zeug­nis­se letzt­lich zuguns­ten des Kom­po­nis­ten, weiß aber um die Grat­wan­de­rung zwi­schen Inne­rer Emi­gra­ti­on und Ver­brä­mung und macht das Nach­den­ken dar­über zu einem Leit­mo­tiv sei­nes Romans.

Denn nur in der Theo­rie »gab es eine kla­re Ent­schei­dung zwi­schen zwei Möglich­kei­ten: Inte­gri­tät oder Kor­rup­ti­on. Aber in der wirk­li­chen Welt, zumal in der extre­men Ver­si­on, die er durch­lebt hat­te, war das anders. Es gab eine drit­te Möglich­keit: Inte­gri­tät und Kor­rup­ti­on.« Vor allem eines gelingt Bar­nes her­vor­ra­gend: dar­zu­stel­len, wie unan­ge­mes­sen das Aus­land auf die Lage reagierte.

Die Demons­tran­ten vor dem abge­schot­te­ten Hotel der sowje­ti­schen Dele­ga­ti­on einer Ame­ri­ka­rei­se, die »Schost­a­ko­witsch – spring aus dem Fens­ter« auf ein Ban­ner gemalt hat­ten und ihn damit der Flucht­be­reit­schaft für ver­däch­tig kenn­zeich­ne­ten; die gut­mü­ti­gen Besu­cher, die ihm aus Paris lee­re Par­ti­tur-blät­ter sand­ten, weil sie mein­ten, man könne damit das Kom­po­si­ti­ons­ver­bot umge­hen; die ekel­haf­ten Visi­ten von Sart­re, Shaw und ande­ren Salon­kom­mu­nis­ten – das alles ver­deut­licht, wie groß der Erkennt­nis- und Erfah­rungs­vor­sprung jener sein konn­te, die von einem tota­li­tä­ren Sys­tem an die Brust gedrückt und dabei fast erwürgt wurden.

Juli­an Bar­nes Der Lärm der Zeit kann man hier bestel­len

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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