Im Mai 1937 wartete ein Mann jede Nacht neben dem Fahrstuhl seiner Leningrader Wohnung darauf, von der Geheimpolizei abgeholt zu werden. Er wollte seiner Familie den Anblick seiner Verhaftung ersparen, den Schock, den Ehemann und Vater hilflos der Willkür fremder Männer ausgesetzt zu sehen. Selbst, wenn er sich hätte wehren wollen, er hätte es nicht vermocht: zu schmächtig, zu unsicher, zu musisch – es war der Komponist Dmitri Schostakowitsch, und es war aus ihm »ein Mann geworden, der wie hundert andere in der Stadt Nacht für Nacht auf seine Verhaftung wartete«.
Der britische Schriftsteller Julian Barnes (1946 geboren, vielfach ausgezeichnet) hat unter dem Titel Der Lärm der Zeit Schostakowitschs Leben in einen knappen Roman gefaßt. Er geht nicht chronologisch vor (das Buch ist keine Biographie), sondern verdichtend und episodisch: Was ist wesentlich am Leben dieses wohl berühmtesten russischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, der (geboren 1905, gestorben 1975) sein Werk tatsächlich ausnahmslos in der sowjetischen Ära schuf? Wie ist das mit dem Verhältnis von Macht und Kunst? Von Unterdrückung, Willkür und Propaganda auf der einen, Auftragskunst, Abhängigkeit und Selbstverständnis des Künstlers auf der anderen Seite?
»Schrieb er, wie es seine Verleumder von ihm verlangten, für den müde von der Schicht heimkehrenden Bergmann aus dem Donbass, der eine wohltuende Stärkung braucht? Nein. Er schrieb Musik für die, die seine Musik am besten zu würdigen verstanden, egal welcher gesellschaftlichen Herkunft sie waren.«
Das mag Schostakowitschs Selbstverständnis gewesen sein, aber das zählte vor der Macht nicht viel, denn sie war auf der Suche nach dem »roten Beethoven« und blickte dabei natürlich auch in seine Richtung. Schostakowitsch aber trug seit 1936 einen Makel, der den Künstler in jeder seiner Äußerungen zu einer existentiellen Entscheidung zwang: Was könnte erneut mißverstanden werden oder Zeichen von Rückfälligkeit sein oder zur Rehabilitierung beitragen oder den Gipfel der Selbstverleugnung, mithin des Verrats an der Kunst markieren?
Der Makel bestand darin, daß Stalin einer Aufführung der beim Publikum sehr beliebten Oper Lady Macbeth von Mzensk beiwohnte, alsbald aber die Konzentration verlor, spöttisch die Nervosität des Orchesters kommentierte und samt seiner Entourage noch vor dem 4. Akt die Regierungsloge verließ.
Am nächsten Tag las Schostakowitsch unter der Überschrift »Chaos statt Musik«, daß er mit seiner »zappeligen, neurotischen Musik den perversen Geschmack der Bourgeoise kitzelte«. Dies mußte, wer zu lesen verstand, als Todesstoß für die Oper lesen, vielleicht sogar als Todesurteil für den politisch unzuverlässigen Künstler, wenigstens aber als Hinweis, daß es ab sofort um Bewährung und Bekenntnis ginge: Man wollte den »optimistischen Schostakowitsch«, diesen »Widerspruch in sich«, wie Barnes es den Komponisten sagen läßt, der diesen katastrophalen Wendepunkt seines Lebens brachial zum Ausdruck brachte: »Das Warten auf die Exekution ist eines der Themen, die mich mein Leben lang gemartert haben, viele Seiten meiner Musik sprechen davon.«
Schostakowitsch ließ sofort seine 4. Symphonie in der Schublade verschwinden und setzte seine 5. auf, deren Marschfinale als Verherrlichung des Regimes gedeutet wurde. Zwischenzeitlich waren seine Schwester nach Sibirien verbannt und sein Schwager verhaftet worden. »Was in der Fünften vorgeht, sollte meiner Meinung nach jedem klar sein. Der Jubel ist unter Drohungen erzwungen«, notierte Schostakowitsch in seinen Memoiren. Barnes wägt derlei Selbstzeugnisse letztlich zugunsten des Komponisten, weiß aber um die Gratwanderung zwischen Innerer Emigration und Verbrämung und macht das Nachdenken darüber zu einem Leitmotiv seines Romans.
Denn nur in der Theorie »gab es eine klare Entscheidung zwischen zwei Möglichkeiten: Integrität oder Korruption. Aber in der wirklichen Welt, zumal in der extremen Version, die er durchlebt hatte, war das anders. Es gab eine dritte Möglichkeit: Integrität und Korruption.« Vor allem eines gelingt Barnes hervorragend: darzustellen, wie unangemessen das Ausland auf die Lage reagierte.
Die Demonstranten vor dem abgeschotteten Hotel der sowjetischen Delegation einer Amerikareise, die »Schostakowitsch – spring aus dem Fenster« auf ein Banner gemalt hatten und ihn damit der Fluchtbereitschaft für verdächtig kennzeichneten; die gutmütigen Besucher, die ihm aus Paris leere Partitur-blätter sandten, weil sie meinten, man könne damit das Kompositionsverbot umgehen; die ekelhaften Visiten von Sartre, Shaw und anderen Salonkommunisten – das alles verdeutlicht, wie groß der Erkenntnis- und Erfahrungsvorsprung jener sein konnte, die von einem totalitären System an die Brust gedrückt und dabei fast erwürgt wurden.
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