Wäre dieses Buch ein Film (und zwar kein Dokustreifen, sondern ein Spielfilm), er gehörte in das Genre der Tragikkomödie. Das Motto lautete: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt! Wie Joachim Radkau, emeritierter Professor für Neuere Geschichte, uns hier durch das Zickzack der prognostizierten Zukünfte führt, hat in zweifacher Hinsicht etwas Erheiterndes. Zum einen, weil Radkau sich auf einen pointierten und zugewandten (sprich: leserfreundlichen) wissenschaftlichen Schreibstil versteht, zum anderen, dies subkutan, weil wir aus diesem Buch eine unermeßliche Hoffnung schöpfen können.
Es geht um das Überraschungs- und Überrumpelungsmoment in der Geschichte. Der Autor führt uns anhand ungezählter Beispiele vor Augen, wie oft es das schon gab in den vergangenen Jahrzehnten: Daß alle Zeichen auf Sturm standen, und es folgte – ein laues Lüftchen. Oder vice versa:Flaute ist angesagt, dann aber überschlagen sich die Ereignisse, und alle Prophetien sind unversehens Schnee von gestern.
Manche Umbrüche, schreibt Radkau, konnten sich gerade deshalb vollziehen, weil sie vom Gros der Zeitgenossen gar nicht in Betracht gezogen worden waren. Hier geht es um eine Geschichte der Zukunftserwartungen und darum, wie solche Prognosen vom dynamischen Momentum der Geschichte unterlaufen wurden. Das dickleibige Buch verschnörkelt sich gelegentlich in allzu feinziselierte Details der Radkauschen Forschungsschwerpunkte, Umweltbewegung und Technikgeschichte. Man liest das ungern am Stück, um so lieber blättert man – gern stundenlang!
Ausgerechnet beim Thema Immigration/Multikultur schwächelt der Autor, er will »bei Amazon keinen einzigen Titel zum Thema ›multikulturelle Gesellschaft‹«gefunden haben. Ob das an der zensorischen Politik des quasi monopolistischen Ladens liegt, sei dahingestellt. Es sagt jedenfalls einiges aus, denn Radkau hat offenkundig keine Scheuklappen; allein, er kennt in diesem Gebiet nur die »penetranten Weisen simplifizierender Tendenzliteratur«, gemeint sind linke Pamphlete. Er spießt auf, daß »ausgerechnet die Grünen« beizeiten für »offene Grenzen«eintraten, obgleich es keinen Grund gab, daß Zuwanderung die Durchsetzungskraft des Umweltschutzes erhöhe, im Gegenteil: »In einer Weltkarte der Umweltbewegung macht der islamische Raum den größten weißen Fleck aus.«Gerade Zuwanderer besäßen ein Interesse an Wirtschaftswachstum um jeden Preis!
Überhaupt, Heimat Babylon (1992, Mitherausgeber Daniel Cohn-Bendit), ein törichter Knabenblütentraum! Radkau: »Wie verträgt sich das Sprachgewirr mit der Demokratie, die doch auf Verständigung zwischen den Bevölkerungsgruppen setzt? Wo bleibt die Demokratie, wenn die Zuwanderung gegen den Willen der Staatsbürger verfügt wird? «Und noch eins, gemünzt auf die überkommene Dritte-Welt-Szene, die doch eigentlich die Flüchtenden dazu animieren sollte, in deren eigenem Land für deren Rechte zu kämpfen: »Parolen wie ›Für ein buntes Deutschland!‹ deuten darauf hin, daß die Multikulturalisten ihr Land mit den Augen des Erlebniskonsumenten sehen und Ausländer nicht als Persönlichkeiten, sondern als Farbtupfer wahrnehmen, im Einklang mit dem neuen Lifestyle, der in buntem Durcheinander Samba, Afro-Rock und Tandoori-Chicken genießt.«
Radkau zitiert Hermann Lübbe: »Träume vom Paradies führen in die Hölle.« Multikulti-Utopien spielen nur eine Nebenrolle. Wie lustvoll läßt es sich aber durch andere Themenfelder schmökern! Durch andere »Forderungen des Tages«! Nehmen wir nur den beschaulichen »kybernetischen Frühling«der DDR, mithin jenes Staates, der noch in den sechziger Jahren Science-
Fiction-Literatur leidenschaftlich bekämpfte, weil Zukunftsvisionen nicht fiktiv sein durften! Der gerade noch Kybernetik als »Pseudotheorie der Obskuranten«gebrandmarkt hatte!
Oder nehmen wir Hartmut von Hentigs frühe Brandrede über »die teuflischen Wirkungen, die das Fernsehen auf die Kindererziehung und die Familie«habe! Oder August Bebel, der von einer »Dose mit Chemikalien«träumte, mit dem das Nahrungsbedürfnis der Menschheit »vollkommener als durch die Natur«befriedigt werde! Oder die kritischen, fast bösartigen Stellungnahmen eines Theodor Heuss, eines Ernst Forsthoff zu den bereits in den fünfziger Jahren grassierenden Auslandsreisen unter Politikern und Wissenschaftlern! Motto: Hockt euch doch auf euern Hintern und tut eure Arbeit!
Radkau geht es jedoch weniger um Schmankerln wie diese, sondern darum: Daß es redlicher historischer Arbeit schadet, wenn Geschichte allein aus der Retrospektive betrachtet wird. Logisch, im Abstand von 75 Jahren hätte jeder einzelne Bundesgymnasiast selbstverständlich bei der Weißen Rose mitgemischt! Radkau wehrt sich gegen die »Besserwisserei aus der Rückschau«, er nennt dergleichen ein »billiges Vergnügen«, das gerade im Blick auf die Weltkriege einen unguten Zug von »moralischer Überlegenheit«erlange. »Expect the Unexpected!«steht als Warnschild vor den Haarnadelkurven entlang des Himalaya. Radkaus großer Trost: »Manchmal ist das Unerwartete ja auch erfreulich.
Joachim Radkaus Geschichte der Zukunft kann man hier bestellen.