Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute

Joachim Radkau: Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, München: Hanser 2017. 544 S., 28 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Wäre die­ses Buch ein Film (und zwar kein Doku­strei­fen, son­dern ein Spiel­film), er gehörte in das Gen­re der Tra­gik­komödie. Das Mot­to lau­te­te: Ers­tens kommt es anders, zwei­tens als man denkt! Wie Joa­chim Rad­kau, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te, uns hier durch das Zick­zack der pro­gnos­ti­zier­ten Zukünf­te führt, hat in zwei­fa­cher Hin­sicht etwas Erhei­tern­des. Zum einen, weil Rad­kau sich auf einen poin­tier­ten und zuge­wand­ten (sprich: leser­freund­li­chen) wis­sen­schaft­li­chen Schreib­stil ver­steht, zum ande­ren, dies sub­ku­tan, weil wir aus die­sem Buch eine uner­meß­li­che Hoff­nung schöpfen können.

Es geht um das Über­ra­schungs- und Über­rum­pe­lungs­mo­ment in der Geschich­te. Der Autor führt uns anhand unge­zähl­ter Bei­spie­le vor Augen, wie oft es das schon gab in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten: Daß alle Zei­chen auf Sturm stan­den, und es folg­te – ein lau­es Lüft­chen. Oder vice ver­sa:Flau­te ist ange­sagt, dann aber über­schla­gen sich die Ereig­nis­se, und alle Pro­phe­ti­en sind unver­se­hens Schnee von gestern.

Man­che Umbrü­che, schreibt Rad­kau, konn­ten sich gera­de des­halb voll­zie­hen, weil sie vom Gros der Zeit­ge­nos­sen gar nicht in Betracht gezo­gen wor­den waren. Hier geht es um eine Geschich­te der Zukunfts­er­war­tun­gen und dar­um, wie sol­che Pro­gno­sen vom dyna­mi­schen Momen­tum der Geschich­te unter­lau­fen wur­den. Das dick­lei­bi­ge Buch verschnörkelt sich gele­gent­lich in all­zu fein­zi­se­lier­te Details der Rad­kau­schen For­schungs­schwer­punk­te, Umwelt­be­we­gung und Tech­nik­ge­schich­te. Man liest das ungern am Stück, um so lie­ber blät­tert man – gern stundenlang!

Aus­ge­rech­net beim The­ma Immigration/Multikultur schwä­chelt der Autor, er will »bei Ama­zon kei­nen ein­zi­gen Titel zum The­ma ›mul­ti­kul­tu­rel­le Gesell­schaft‹«gefun­den haben. Ob das an der zen­so­ri­schen Poli­tik des qua­si mono­po­lis­ti­schen Ladens liegt, sei dahin­ge­stellt. Es sagt jeden­falls eini­ges aus, denn Rad­kau hat offen­kun­dig kei­ne Scheu­klap­pen; allein, er kennt in die­sem Gebiet nur die »pene­tran­ten Wei­sen sim­pli­fi­zie­ren­der Ten­denz­li­te­ra­tur«, gemeint sind lin­ke Pam­phle­te. Er spießt auf, daß »aus­ge­rech­net die Grü­nen« bei­zei­ten für »offe­ne Gren­zen«ein­tra­ten, obgleich es kei­nen Grund gab, daß Zuwan­de­rung die Durch­set­zungs­kraft des Umwelt­schut­zes erhöhe, im Gegen­teil: »In einer Welt­kar­te der Umwelt­be­we­gung macht der isla­mi­sche Raum den größ­ten wei­ßen Fleck aus.«Gera­de Zuwan­de­rer besä­ßen ein Inter­es­se an Wirt­schafts­wachs­tum um jeden Preis!

Über­haupt, Hei­mat Baby­lon (1992, Mit­her­aus­ge­ber Dani­el Cohn-Ben­dit), ein törich­ter Kna­ben­blü­ten­traum! Rad­kau: »Wie ver­trägt sich das Sprach­ge­wirr mit der Demo­kra­tie, die doch auf Ver­stän­di­gung zwi­schen den Bevölke­rungs­grup­pen setzt? Wo bleibt die Demo­kra­tie, wenn die Zuwan­de­rung gegen den Wil­len der Staats­bür­ger ver­fügt wird? «Und noch eins, gemünzt auf die über­kom­me­ne Drit­te-Welt-Sze­ne, die doch eigent­lich die Flüch­ten­den dazu ani­mie­ren soll­te, in deren eige­nem Land für deren Rech­te zu kämp­fen: »Paro­len wie ›Für ein bun­tes Deutsch­land!‹ deu­ten dar­auf hin, daß die Mul­ti­kul­tu­ra­lis­ten ihr Land mit den Augen des Erleb­nis­kon­su­men­ten sehen und Aus­län­der nicht als Persönlich­kei­ten, son­dern als Farb­tup­fer wahr­neh­men, im Ein­klang mit dem neu­en Life­style, der in bun­tem Durch­ein­an­der Sam­ba, Afro-Rock und Tan­doori-Chi­cken genießt.«

Rad­kau zitiert Her­mann Lübbe: »Träu­me vom Para­dies füh­ren in die Hölle.« Mul­ti­kul­ti-Uto­pien spie­len nur eine Neben­rol­le. Wie lust­voll läßt es sich aber durch ande­re The­men­fel­der schmökern! Durch ande­re »For­de­run­gen des Tages«! Neh­men wir nur den beschau­li­chen »kyber­ne­ti­schen Früh­ling«der DDR, mit­hin jenes Staa­tes, der noch in den sech­zi­ger Jah­ren Science-
Fic­tion-Lite­ra­tur lei­den­schaft­lich bekämpf­te, weil Zukunfts­vi­sio­nen nicht fik­tiv sein durf­ten! Der gera­de noch Kyber­ne­tik als »Pseu­do­theo­rie der Obsku­ran­ten«gebrand­markt hatte!

Oder neh­men wir Hart­mut von Hen­tigs frü­he Brand­re­de über »die teuf­li­schen Wir­kun­gen, die das Fern­se­hen auf die Kin­der­er­zie­hung und die Fami­lie«habe! Oder August Bebel, der von einer »Dose mit Che­mi­ka­li­en«träum­te, mit dem das Nah­rungs­be­dürf­nis der Mensch­heit »voll­kom­me­ner als durch die Natur«befrie­digt wer­de! Oder die kri­ti­schen, fast bösar­ti­gen Stel­lung­nah­men eines Theo­dor Heuss, eines Ernst Forst­hoff zu den bereits in den fünf­zi­ger Jah­ren gras­sie­ren­den Aus­lands­rei­sen unter Poli­ti­kern und Wis­sen­schaft­lern! Mot­to: Hockt euch doch auf euern Hin­tern und tut eure Arbeit!

Rad­kau geht es jedoch weni­ger um Schman­kerln wie die­se, son­dern dar­um: Daß es red­li­cher his­to­ri­scher Arbeit scha­det, wenn Geschich­te allein aus der Retro­spek­ti­ve betrach­tet wird. Logisch, im Abstand von 75 Jah­ren hät­te jeder ein­zel­ne Bun­des­gym­na­si­ast selbst­ver­ständ­lich bei der Wei­ßen Rose mit­ge­mischt! Rad­kau wehrt sich gegen die »Bes­ser­wis­se­rei aus der Rück­schau«, er nennt der­glei­chen ein »bil­li­ges Ver­gnü­gen«, das gera­de im Blick auf die Welt­krie­ge einen ungu­ten Zug von »mora­li­scher Über­le­gen­heit«erlan­ge. »Expect the Unex­pec­ted!«steht als Warn­schild vor den Haar­na­del­kur­ven ent­lang des Hima­la­ya. Rad­kaus gro­ßer Trost: »Manch­mal ist das Uner­war­te­te ja auch erfreulich.

Joa­chim Rad­kaus Geschich­te der Zukunft  kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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