Unter dem Slogan »Den Richtigen ein Denkmal, nicht den Alt-Nazis«verhüllten vor zwei Jahren Münchner Grüne das Trümmerfrauen-Denkmal am Marstallplatz. Ihr Geschichtsbild möchte man haben – dann wäre die Welt abzüglich der historischen Wirklichkeit so schön einfach. So schön einfach, wie sie es den rechten »Komplexitätsreduzierern« immer vorhalten.
Florian Huber, Jahrgang 1967, hatte 2015 in seinem vielbeachteten Buch Kind, versprich mir, dass du dich erschießt (siehe Sezession66) persönliche und amtliche Dokumente ausgewertet, die die massenhaften Selbsttötungen der frisch »Befreiten« betrafen. Auch in seinem neuen Buch geht Huber ganz ruhig vor. Er webt zehn verschiedene Familiengeschichten ineinander, Briefe und Tagebücher kriegsbedingt getrennter Paare, Notizen von Trümmerfrauen, dann die Väter, dann die Kinder – so ist ein systematisch geordnetes, erzählendes Textgewebe entstanden. Hubers Blickwinkel: Er will nicht mehr der ewige Richter sein über die Eltern- und Großelterngeneration. Er beendet die Berichterstattung mit den »Halbstarken« der späten 50er Jahre und verkneift sich jeden anspielenden Vorausgriff auf die 68er-Revolte und ihren Haß auf die Eltern samt entsprechender Bewältigungsideologie.
Huber psychologisiert in Maßen. »Zwanghaftigkeit«und »Autoritätsreflex«der Kriegs-elterngeneration fallen en passant, wiederholt nennt der Autor sie allerdings »hartleibig«und »harthörig«– fast phänomenologische Begriffe, mit denen er die Atmosphäre der 50er Jahre sinnlich zu greifen versucht. Unter der unversöhnlich abrechnenden Intellektuellenperspektive von Hannah Arendts »Besuch in Deutschland«(1950), die der späteren »Vergangenheitsbewältigung« zugrunde gelegt wurde, schlüpft Hubers Erzählung durch seine einfachen Protagonisten hindurch. »Sie war 30 Jahre alt, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Sie wohnte in Arolsen, beliebt als Kulisse für Bilderbuchillustratoren. Aber der Begriff Kulisse bedeutet auch Schiebewand, hinter der ein verworrenes Getriebe arbeitet. Edith Sänger hatte beschlossen, die Wand beiseitezuschieben, um aufzuräumen, was sie mit sich herumschleppte. Es galt, den Gespenstern ihres Lebens in die hässliche Fratze zu schauen, alles beim Namen zu nennen, was sie quälte.«
Edith scheitert an ihrem Tagebuchversuch, die ungewollte Schwangerschaft mit dem dritten Kind und der ständige kalte Streit mit dem Kriegsheimkehrer an ihrer Seite vereiteln einen Blick von außen. Den »Gespenstern«konnten weder sie noch ihre Zeitgenossen direkt in die Fratzen schauen. Sie wollten es auch überhaupt nicht, ist Florian Hubers Erkenntnis: »Unmittelbar nach Kriegsende war die Stimmung des Vaterlandes von Dankbarkeit weit entfernt«– so daß es eben nicht nur das vielbeschriebene Trauma war, sondern schlicht eine kollektive Unfähigkeit der Deutschen, die »Opfer«, die die Männer im Krieg gebracht hatten, nicht die »Opfer«, die sie geworden waren, überhaupt noch erkennen zu können. Und so schwiegen sie. Ein in sich abgeschlossenes Kapitel – das großartige Vesper, Ensslin, Baader. Ur-szenen des deutschen Terrorismus von Gerd Koenen (2003) lieferte hier das Material – namens »Aufstand im Land der Angepassten«handelt lapidar von »einer Facette einer weitverbreiteten Unruhe, die hinter der konformistischen Fassade der Gesellschaft immer wieder zum Ausbruch kam«.
Die Rede ist vom Lippoldsberg, wo Hans Grimm (Volk ohne Raum) ab 1949 wieder diejenigen sammelte, die aus geistes-aristokratischen Gründen NS-Dichter und ‑Denker geworden waren. Deren Kinder, Bernward Vesper war einer von ihnen, erfuhren hier den Geist eines Aufstands gegen die neugegründete Bundesrepublik. Grimm bezeichnete die Angepaßtheit, den Konsumismus, das Geistlose und Unpolitische der Deutschen in den 50er Jahren als »Ohne-mich-Standpunkt«, dem jedweder Opferwille und jedwedes Pathos aberzogen worden waren. Huber übernimmt dies, ohne zu richten.
Die Familienperspektive einzunehmen, ist das Verdienst dieses Buches. Wenn ich es vergleiche mit Melitta Maschmanns Fazit. Kein Rechtfertigungsversuch (1963), die als BDM-Führerin eindrucksvoll Rechenschaft ablegt über ihre Überzeugungen und deren Verrat, ist Huber zu systemisch-ausgleichend. Maschmann bleibt die Individualperspektive, die Ich-Erzählerin gehörte nach 1945 nicht mehr zu einem Wir. Wenn ich es vergleiche mit Sophie Dannenbergs Roman Das bleiche Herz der Revolution(2004), das die literarisch extrem pointierte Enkelperspektive der Kinder der 68er auf die Nachkriegszeit einnimmt, dann ist Huber zu freundlich. Aber er hat sich ja auch jeglicher Schuldzuweisung entschlagen.
»Zu allen Geschichten gehört eine Unterseite«, schreibt
Florian Huber. Zu allen Unterseiten gehören allerdings auch erst einmal Geschichten. Diesen Merksatz ließe ich den Münchner Grünen gern zukommen, als nachdrückliche Leseempfehlung für Hinter den Türen warten die Gespenster.
Florian Hubers Hinter den Türen warten die Gespenster kann man hier bestellen.