Charles Péguy (1873–1914) war Sozialist, »Dreyfusard«, Publizist, Polemiker, Dichter, Nationalist und gläubiger Katholik. Er fiel als Freiwilliger am 5. September 1914, am Vorabend der Marne-Schlacht. Seine zwischen 1900 und 1914 erschienene Zeitschrift Cahiers de la Quinzaine, zu deren Beiträgern Köpfe wie Romain Rolland, Julien Benda, Anatole France, Georges Sorel und Daniel Halévy zählten, gilt als eine der bedeutendsten Hervorbringungen des Geisteslebens dieser Epoche. In Deutschland ist Péguy heute so gut wie vergessen, zumal sein Prosawerk im Gegensatz zu seinen voluminösen Versdichtungen nur bruchstückhaft übersetzt wurde.
Das hat verschiedene Gründe. Hans Urs von Balthasar schrieb, das »ungeheure« Prosawerk Péguys sei »selbst für Franzosen ein Urwald«: »Vieles daraus, und einiges vom Schönsten, wird immer unübersetzbar bleiben. Manches ist Gestrüpp und würde eine Übertragung nicht rechtfertigen. Sehr vieles ist leidenschaftliche, zeitgebundene politische Diskussion und Polemik und setzt, um verstanden zu werden, bereits ein historisches Studium voraus.« Hinzu kommt der eigentümliche, in Arabesken und »Litaneien« ausufernde Stil des Autors, der dem Leser oft viel abverlangt. Wenn sie aber ihre Wirkung entfaltet, hat Péguys Prosa eine bewegende suggestive Kraft.
Alexander Pschera hat sich dieser schwierigen Aufgabe, Péguy zu übersetzen, gestellt und sie mit Bravour gemeistert. Auch der Essay »Das Geld« (1913) ist ein merkwürdiger literarischer Hybrid: Er beginnt als Einleitung zu einer Abhandlung über das französische Grundschulwesen, verliert sich rasch in autobiographischen Erinnerungen und mündet schließlich in eine »poetische Lebensphilosophie in nuce« (Pschera). Er enthält mehrere von Péguys berühmten und vielzitierten Sentenzen, etwa: »Der Modernismus besteht darin, nicht zu glauben, was man glaubt.« – »Jeder hat eine Metaphysik. Offenkundig oder versteckt. Oder man lebt nicht.« – »Die Welt hat sich seit Jesus Christus weniger verändert als in den letzten dreißig Jahren.«
Letzterer Satz ist eine Kernthese des Essays, der in erster Linie eine leidenschaftliche Anklage gegen die »moderne Welt« des kapitalistischen Bürgertums ist, das die Welt des »alten Frankreichs«, die der Autor noch in seiner Kindheit kennengelernt hatte, zunichte gemacht und unter die Vorherrschaft des Geldes stellte. Péguy, Sohn eines Schreiners und einer Stuhlflechterin, sieht dieses alte Frankreich, das französische Volk schlechthin, verkörpert in den einfachen Menschen, den Arbeitern und Bauern, die sich in einer seit der Antike ununterbrochenen jahrtausendealten Tradition in eine fromme und arbeitsame »Armut« fügten, in jene »dumme Moral«, die das tägliche Brot sicherte und ein zufriedenes Leben ermöglichte.
Eine Moral, die sich für Péguy vor allem im Ethos einer – um es im Anschluß an Marx zu sagen – »unentfremdeten« Arbeit manifestiert, die ihren Wert in sich selbst und nicht im Mehrwert der kapitalistischen Bereicherung hat, in der Würde und Ehre »des gut gemachten Werks«, sei dies ein mit Stroh bespannter Stuhl oder die Kathedrale von Chartres: »Die Arbeit war ihre ureigenste Freude, die tiefreichende Wurzel ihres Daseins.« Diese Freude und Ehre der Arbeit steht im Zentrum von Péguys verklärender Apologie eines verwurzelten, traditionellen, asketischen Lebens: »Alles war Erhebung, eine innere, und Gebet, den ganzen Tag, der Schlaf und das Wachen, die Arbeit und die seltene Ruhe, das Bett und der Tisch, die Suppe und das Rind, das Haus und der Garten, die Tür und die Straße, der Hof und die Türschwelle, und die Teller auf dem Tisch.«
Der Bruch mit der Welt der Tradition und des alten Frankreich setzt für Péguy also nicht etwa 1789 ein, sondern erst mit Ende des 19. Jahrhunderts, mit der zunehmenden Herrschaft des Ökonomistischen, des Glaubens »an die Ökonomie als Total-Remedium« (so Peter Trawny im Nachwort ), vorangetrieben von der mammonistischen Bourgeoisie, von der »alle Verirrungen, alle Verbrechen« ausgehen. Sie hat es geschafft, das französische Volk zu infizieren und es damit seines Volkstums, seines »Wesens«, sozusagen seiner Seele zu berauben: »Es ist genau das Problem der Entchristlichung Frankreichs.«
Mithin beschrieb Péguy ein und denselben Prozeß, den Pier Paolo Pasolini in den sechziger Jahren als »anthropologischen Genozid« anprangerte. »Wenn man heute vom ›Volk‹ spricht«, so Péguy 1913, »dann macht man Literatur, sogar eine der niedrigsten: Wahlkampfliteratur, politische Literatur, parlamentarische Literatur. Das ›Volk‹ gibt es nicht mehr. Jeder ist bürgerlich geworden. Denn jeder liest seine Zeitung.«
Sein unerbittliches Verdikt trifft dabei die Linke ebenso wie die Rechte: Den Sozialismus betrachtete Péguy als bürgerliche Intellektuellenveranstaltung, die die Arbeiter zutiefst korrumpiert habe, während die »Verteidiger des Thrones und Altars« vom Schlage eines »Monsieur Maurras« nichts weiter als verkappte Moderne und »nicht einmal im Ansatz« authentische Männer des »alten Frankreich« seien.
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