Beim Schreiben von Biographien ist ein schmaler Grat zu beschreiten. Wahrt der Biograph zu große Distanz zur beleuchteten Person, dann referiert er nur trockene Lebensdaten und gestattet dem Leser nicht, sich in ihre Zeit und Lage hineinzuversetzen. Wird der professionelle Abstand aufgegeben, dann verschwimmen die Grenzen zwischen Autor und Beschriebenem, und am Ende steht schlimmstenfalls mehr über den Biographen selbst als über die historische Person auf dem Papier.
Die Freiburger Schriftstellerin Ingeborg Gleichauf hat ein Faible für »Lebensgeschichten«, insbesondere die von Frauen, die »wie keine andere« waren. Sie schrieb ihre Dissertation über Ingeborg Bachmann; ihre Biographie Simone de Beauvoirs ist preisgekrönt. Den Bericht über das Leben Gudrun Ensslins, RAF-Gründungsmitglied und Geliebte Andreas Baaders, leitet sie mit Vorhaltungen ein: Alle bisherigen Darstellungen der ersten RAF-Generation, von Jillian Beckers Hitler’s Children über den Film Stammheim bis hin zu Stefan Austs Baader-Meinhof-Komplex hätten sich nicht darum bemüht, Ensslin als Frau und Individuum zu zeichnen, sondern sie als die ewige »Pfarrerstochter« und flotte Biene im Gepäck Baaders abgetan. Gut weg kommen nur zwei Autoren: Gerd Koenen und Carolin Emcke, deren Buch Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF Gleichauf ausdrücklich würdigt. Wie Emcke will sie mit halbgaren Interpretationen und Mutmaßungen aufräumen.
Ihr Problem ist dabei allerdings, daß sie sich schnell selbst darin und in ihrem Objekt verliert. Gleichauf arbeitet journalistisch, folgt dem Lebensweg der jungen Ensslin vom schwäbischen Geburtsort Bartholomä an und befragt Menschen vor Ort, denen die Familie Ensslin noch erinnerlich ist. Ihre Spurensuche schlägt gern ins geradezu Belletristische um: Der Leser erfährt viel über Ensslins universitären Stundenplan, welche ihrer Professoren vor Kriegsende Parteigenossen waren und wie sich die Studentin anfangs vergeblich bemühte, ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes zu erhalten – wegen verhaltener Beurteilungen durch ältere Herren mit fragwürdiger politischer Vergangenheit, natürlich!
Wer dieses Stipendium ungerechterweise anstandslos erhielt, war Bernward Vesper, den die Biographin allen Ernstes als »Nazi-Dichter-Sohn« apostrophiert, als seien das drei gleichberechtigte Attribute. Wie Ensslin ihren späteren Verlobten und Vater ihres Sohns Felix kennenlernte, erfährt der Leser nicht, dafür aber viel über die Amour fou der beiden, die einander regelmäßig betrogen. Gleichauf zeichnet Vesper als den entscheidenden der vielen unheilvollen Männer im Leben der Gudrun Ensslin, der ihr den Schriftsteller Hanns Henny Jahnn mit seinen expliziten Schilderungen von Sex und Gewalt nahebrachte – wie so vieles sind auch diese Details für Gleichauf »ganz eindeutig« maßgeblich für den späteren Weg in den Untergrund.
Überhaupt: die Poesie aus dem Buchtitel. Angesichts von Ensslins großem literarischen Interesse liegt die Bezugnahme zwar nahe, doch Gleichaufs ständiger Rekurs auf Schriftsteller, insbesondere ihr Steckenpferd Ingeborg Bachmann, wirkt gezwungen. Das läßt sich »stimmungsvoll« nennen, aber wirkt eher als Romantisierung. Gudrun Ensslin war eben keine reine Literatin mit Maschinenpistole, sondern eine Terroristin, die mindestens die vier Toten der RAF-Maioffensive 1972 mitverschuldet hat. Fünfzig Jahre nachdem der Tod Benno Ohnesorgs die Studentenbewegung radikalisierte, ist Ingeborg Gleichauf eine sehr detailreiche Schilderung des schillernden Lebens einer Frau der Extreme bis zum Ende an einem Lautsprecherkabel in Stammheim gelungen. Der Leser muß allerdings um die zahlreichen, stellenweise ärgerlichen Andichtungen herumlesen, ohne die das Buch deutlich schmaler wäre – sie verleihen dem Titel Poesie und Gewalt eine unschöne Doppelbedeutung.
Ingeborg Gleichaufs Poesie und Gewalt kann man hier bestellen.