»Freunde des Menschengeschlechts und dessen, was ihm am heiligsten ist! Nehmt an, was euch nach sorgfältiger Prüfung am glaubwürdigsten scheint, es mögen Facta, es mögen Vernunftgründe sein; nur streitet der Vernunft nicht das, was sie zum höchsten Gut auf Erden macht, nämlich das Vorrecht ab, der letzte Probierstein der Wahrheit zu sein. Widrigenfalls werdet ihr, dieser Freiheit unwürdig, sie einbüßen, und dieses Unglück noch dazu dem übrigen schuldlosen Teile über den Hals ziehen, der sonst wohl gesinnt gewesen wäre, sich seiner Freiheit gesetzmäßig und dadurch auch zweckmäßig zum Weltbesten zu bedienen!«
Philosophische Grundlinien ziehen zu können, ist eine Kunst gemäß Kants Frage von 1786, »Was heißt, sich im Denken orientieren?«, die im obenstehenden Schlußsatz endet. Der promovierte Philosoph Alexander Ulfig (geboren 1962 in Kattowitz) tut in seinem aktuellen Buch nichts anderes, als Grundlinien zu ziehen. Als Autor mehrerer philosophiegeschichtlicher Überblickswerke ist das wohl die natürliche Wuchsrichtung seiner Feder, indes ist es für einigermaßen bewanderte Leser unerfreulich. »Einigermaßen bewandert«heißt nicht, mit allen Wassern der Theorie gewaschener Postmodernist zu sein, sondern so vorgebildet, daß er nicht mit Sätzen wie »Ende des 19. Jahrhunderts verkündete der Philosoph Friedrich Nietzsche die Auflösung von zentralen Werten der westlichen Zivilisation«oder »Eine wichtige Rolle spielte dabei die antiautoritäre Studentenbewegung. Sie wird auch als Die 68er bezeichnet«irgendwo abgeholt werden möchte.
Ulfig zeichnet folgende Grundlinie: Nietzsches »Umwertung aller Werte«beeinflußte Marx und Foucault, und diese beeinflußten die gegenwärtige ideologische Linke, welche den politischen Mainstream bildet und so konkrete Gesetze macht (beispielsweise Frauenquoten), die sich auf Nietzsches Verrat an den Idealen von Humanismus und Aufklärung zurückbeziehen lassen. Ulfigs Nietzsche-Lesart ist grob verkürzend, wenn er behauptet: »Mit seiner ›Ethik der Vornehmheit‹ legitimiert Nietzsche die Schaffung von Privilegien und Sonderrechten für auserwählte Gruppen, Skrupellosigkeit beim Durchsetzen eigener Interessen und Willkür«.
Haben wir immer schon heimlich vermutet: Die Frauenquotenlobby ist von »Übermenschen« unterwandert … Das Hauptproblem seines Ansatzes ist, daß er der »postmodernen Beliebigkeit«ihre Holzschnittartigkeit getrost lassen kann (allein ein Kapitel über »Paradigma und Inkommensurabilität«, verfaßt gemeinsam mit einem Kollegen, geht tiefer), weil er ihr ohnehin nur das entgegensetzen will, was ihre historischen Gegner waren: Humanismus, Aufklärung, Menschenrechtsuniversalismus (der sich übrigens nicht so einfach gegen Foucaults Emblem vom »Ende des Menschen«halten läßt).
Mit Kant können wir Nihilismus, Dekonstruktion, Partikularismus und postmoderner Vernunftkritik methodisch wunderbar widerstehen, »der letzte Probierstein der Wahrheit«ist nun einmal die Vernunft. Soweit, so modern. Nur hat der Autor offensichtlich aus seiner Lektüre der Linie Nietzsche-Marx-Freud-Foucault nicht entnommen, daß diese Verdächtigen auch in ihrer Alleszermalmertätigkeit historisch einen unbestechlichen Blick auf die Voraussetzungen von Ulfigs Menschenrechtsuniversalismus geworfen haben. Daß sich die »Freunde des Menschengeschlechts«ihrer »Freiheit gesetzmäßig und dadurch auch zweckmäßig zum Weltbesten zu bedienen«haben, kündet dann doch von einer Foucaultschen »Macht«des Universalismus. Aus der postmodernen »Beliebigkeit«führen keine gangbaren Wege zurück in die aufklärerische Moderne.
Entweder müssen wir weiter zurückgehen, oder, wahrscheinlicher: das westliche Anything goes wird nicht philosophisch, sondern kriegerisch widerlegt.
Alexander Ulfigs Wege aus der Beliebigkeit kann man hier bestellen.