Zukunftsromane bieten eine Vermutung darüber an, wo wir einmal enden könnten. Eugen Ruges Follower spielt im Jahr 2055 und entwirft ein plausibles Szenario. Die Unterwerfung des Einzelnen durch ein lückenloses Kommunikations‑, Selbstoptimierungs- und Bedarfsweckungsangebot ist abgeschlossen, das Virtuelle dominiert das Reale, aber im Grunde sind diese Gegensätze bereits obsolet: Zu vermuten, es gäbe unter der Oberfläche (dem Datenstrom, dem Content) etwas wie ein Eigentliches, ist ein veraltetes Unterscheidungskriterium, ein Ordnungswunsch von vorgestern. Ruges Hauptfigur Nio Schulz sind Verhaltensweisen, Abhängigkeiten und Sprachsensibilitäten in Fleisch und Blut übergegangen, deren Vordringen wir heute bereits wahrnehmen können.
Nio findet sich nur dann zurecht, wenn er mithilfe seiner Internetbrille und seinen Ohrenstöpseln wie eine Koordinate im Netz verortet worden ist. Nun weiß er wieder, daß er einen Termin mit den Chinesen haben wird, um ihr Interesse an einem Produkt zu wecken, das Marktanteile erobern soll, obwohl diejenigen, die diesen Markt bilden, bisher nicht wissen, daß sie es brauchen oder vermissen könnten. Nio ist unter Druck, sein letztes Projekt war ein Flop. Er möchte die Stunden bis zum Meeting optimal und optimierend verbringen, beispielsweise ein Dossier lesen. Aber ständig lenken ihn Kommunikationsfetzen ab, verfaßt von Leuten, deren Follower er ist. Die Weltbank kämpft gegen Fake Newsan, deren Auswirkungen auf fallende Kurse sehr real sind; eine junge Frau läßt einen Kuchen anbrennen, verzweifelt, droht Selbstmord an und bleibt selbst damit ein Icon unter vielen.
Nio kann sich nicht konzentrieren, er wird vom Nachrichtenstrom mitgespült. Das ist auch formal stimmig gelöst: Ruges Roman besteht – der Untertitel verspricht es – in seinem Hauptstrang tatsächlich nur aus vierzehn dahinplätschernden Sätzen. Nio jedenfalls kann nicht abschalten, er wartet auf den Anruf seiner Partnerin, die er nur alle paar Wochen trifft, weil beide so mobil sind. Beim letzten Date hat er sie sexuell enttäuscht. Nun überrascht sie ihn mit dem Vorschlag, eine Familie zu gründen und dabei auf Leihmutter (Ukrainerinnen sind die teuersten) und Spendersamen (nepalesischer Einschlag ist der letzte Schrei) zu verzichten.
Man könne es auf die herkömmliche Methode versuchen, mit einer Zeugung mittels Beischlafs, und sie stützt diesen gewagten Vorschlag mit einem Verweis darauf, daß es den Ansatz eines Trends hin zu soviel Direktheit gebe. Kurz: Der natürliche Wunsch eines Paares ist modisch abgesichert. Es besteht kein Zweifel, daß Ruge sich schüttelt beim Gedanken daran, wie weit es mit uns gekommen ist und wo es mit uns enden könnte. Man weiß das spätestens dort, wo Ruge seinem in Echtzeit ablaufenden Roman das Kapitel »Genesis / Kurzfassung« einschiebt. Dieser Einschub ist der Bericht davon und die Frage danach, wie es überhaupt möglich war, daß bis zu Nio eine Linie an Vorfahren nicht abriß, sondern sich durchhielt – trotz Hunger, Krankheit, Seuche, Krieg. Diese Vorfahren wühlten sich um 1850 aus der Hilflosigkeit heraus, von sieben Kindern fünf oder sechs wegsterben sehen zu müssen. Auch nach zwei Weltkriegen pflanzte sich die Familie fort.
Irgendwann kam die Generationenfolge bei Follower Nio an, der nun wahrlich alles besitzt, um ein, zwei Kinder zu bebrüten. Doch er kriegt das nicht mehr hin, er gibt nicht mehr weiter, was sich über Jahrtausende durchbiß und ihn formte: Irgendwann muß der Faden reißen.
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