Michail Ossorgin: Zeugen der Zeit

Michail Ossorgin: Zeugen der Zeit, aus dem Russischen von Ursula Keller unter Mitarbeit von Natalja Sharandak, Berlin: Die Andere Bibliothek 2016. 552 S., 42 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Einer inter­es­siert sich für die jün­ge­re rus­si­sche Geschich­te. Einer liebt fes­seln­de Erzäh­lun­gen. Ein ande­rer hat sich durch man­gel­haf­te Über­set­zung abschre­cken las­sen von »den Rus­sen«. An alle drei Lese­ty­pen: Lest! Oss­or­gin! Der vor­lie­gen­de Band beinhal­tet zwei Bücher. Ein­mal Zeu­ge der Geschich­te, dann das Buch vom Ende. Es sind zwei Kapi­tel einer Geschich­te, sie umfas­sen den Zeit­raum von 1905 bis 1917. Noch vor der Geschich­te muß man zwei­er­lei her­vor­he­ben, ers­tens, wirk­lich, die Über­set­zungs­leis­tung. Die darf in die­sem Fall nicht unter »neben­bei« ran­gie­ren, sie ist in der Tat groß­ar­tig. Ursu­la Kel­ler und Natal­ja Sha­randak haben es voll­bracht, aus den rus­si­schen Vor­la­gen (von 1932 und 1935) her­vor­ra­gend les­ba­re Tex­te zu schaf­fen, die ful­mi­nant vom rus­si­schen Ges­tern ins euro­päi­sche Heu­te navi­gie­ren. Man kann das direkt schlür­fen, man ver­gißt lesend die Zeit!

Zwei­tens, ein Lob für die Buch­ge­stal­tung. Wie schön der Satz, das Vor­satz­pa­pier, der Umschlag! Und wer noch Fra­gen hät­te zum Roman­in­halt im Detail: Vier­zig Sei­ten »Anmer­kun­gen« (Wer ist ein »Okto­brist«? Was meint »Expro­pria­ti­on«?) klä­ren auf; zusätz­lich beschreibt ein Nach­wort aus der Feder Ursu­la Kel­lers die pro­fun­den Hintergründe.

Was wird hier gespielt? Ein Schlüs­sel­ro­man, des­sen Ver­schlüs­se­lungs­code heu­te einer­lei ist. Die Prot­ago­nis­ten hei­ßen Nata­scha (his­to­ri­sches Vor­bild: Natal­ja Kli­mo­wa, Toch­ter der ers­ten Ärz­tin Ruß­lands und Mit­glied des radi­ka­len Flü­gels der Sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren Par­tei) und Vater Jakow, der Pope (Vor­bild: der Publi­zist Jakow Was­sil­je­witsch Sche­sta­kow, Mär­ty­rer der rus­sisch-ortho­do­xen Kir­che). Letz­te­rer ist der »Zeu­ge der Zeit«, eine Art vor­zeit­li­cher For­rest Gump. Der Zufall – nein, das Schick­sal! – will es, daß die­ser rei­sen­de Pope stets dort im gro­ßen rus­si­schen Reich zuge­gen ist, wo his­to­ri­sche Kno­ten­punk­te geknüpft werden.

Wir, als Leser, erfah­ren an kei­ner Stel­le genau, wel­cher Geist die vor­re­vo­lu­tio­nä­re Ter­ror­grup­pe um Nata­scha beflü­gelt. Wel­che For­de­run­gen sie an das herr­schen­de Sys­tem haben – es bleibt nebu­lös. Nur das: Die­se jun­gen Leu­te bren­nen! Und wie! Sie sind Pro­to­ty­pen des fana­ti­schen Selbst­mord­at­ten­tä­ters avant la lett­re. Nata­scha und Olen (eigent­lich Michail Soko­lov, sechs­und­zwan­zig­jäh­rig zum Tod ver­ur­teilt) sind, nietz­schea­nisch beein­flußt, die cha­ris­ma­ti­schen »blon­den Bes­ti­en« unter den ultra­lin­ken Zaren­geg­ner. Ihr Leben, im Unter­grund mit Tarn­e­xis­ten­zen, im Gefäng­nis, für Nata­scha (1885–1918) dann im bohe­mi­en­haf­ten Exil in Paris und Ita­li­en, dient ein­zig der »Bewe­gung«. Nata­scha zu Olen: »Was heißt denn Recht? Hier geht es nicht um Recht, son­dern um ein Natur­ge­setz. Es gibt kein Leben ohne Gewalt. Man macht einen Schritt und zer­tritt einen klei­nen Käfer. Es ist kein Recht, die Welt ist so. Gewalt ist etwas Natür­li­ches und Unab­ding­ba­res.« Olen: »Aber wir sagen doch, wir kämp­fen gegen Gewalt im Namen der Freiheit.«Natascha: »Ja, aber gegen die Gewalt der ande­ren und für unse­re Frei­heit. Alle kämp­fen. So muß es auch sein.«

Der Erzäh­ler hin­ge­gen weiß: Nata­scha »ver­stand kaum den Sinn die­ser Begrif­fe. Von Natur aus war sie von schlich­tem Ver­stand. Aber ihr Glau­be war auf­rich­tig und echt.« Die­ser numi­no­se Glau­be an die gute, gerech­te Sache, er trägt sie bedin­gungs­los durch die blu­ti­gen Zei­ten. Am Ende, man kann es kaum glau­ben, fin­det Nata­scha ihre Bestim­mung: Mutterschaft.

Michail Oss­or­gin, Land­adel, war seit 1904 Mit­glied der Sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren Par­tei. Er gewähr­te Geheim­tref­fen in sei­ner Woh­nung und muß­te bei­zei­ten emi­grie­ren. In Ita­li­en hat­te er engen Kon­takt zu den Futu­ris­ten, wur­de Frei­mau­rer und enga­gier­te sich ab 1917 anti­bol­sche­wis­tisch. Sein 2015 wie­der­ent­deck­ter Roman Eine Stra­ße in Mos­kau(1928) wur­de furi­os gefei­ert. Die bei­den nun vor­ge­leg­ten Nach­fol­ger dürf­ten zum Kanon des Gele­sen­ha­ben­müs­sens zählen.

Michail Oss­or­gi­ns Zeu­gen der Zeit kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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