Einer interessiert sich für die jüngere russische Geschichte. Einer liebt fesselnde Erzählungen. Ein anderer hat sich durch mangelhafte Übersetzung abschrecken lassen von »den Russen«. An alle drei Lesetypen: Lest! Ossorgin! Der vorliegende Band beinhaltet zwei Bücher. Einmal Zeuge der Geschichte, dann das Buch vom Ende. Es sind zwei Kapitel einer Geschichte, sie umfassen den Zeitraum von 1905 bis 1917. Noch vor der Geschichte muß man zweierlei hervorheben, erstens, wirklich, die Übersetzungsleistung. Die darf in diesem Fall nicht unter »nebenbei« rangieren, sie ist in der Tat großartig. Ursula Keller und Natalja Sharandak haben es vollbracht, aus den russischen Vorlagen (von 1932 und 1935) hervorragend lesbare Texte zu schaffen, die fulminant vom russischen Gestern ins europäische Heute navigieren. Man kann das direkt schlürfen, man vergißt lesend die Zeit!
Zweitens, ein Lob für die Buchgestaltung. Wie schön der Satz, das Vorsatzpapier, der Umschlag! Und wer noch Fragen hätte zum Romaninhalt im Detail: Vierzig Seiten »Anmerkungen« (Wer ist ein »Oktobrist«? Was meint »Expropriation«?) klären auf; zusätzlich beschreibt ein Nachwort aus der Feder Ursula Kellers die profunden Hintergründe.
Was wird hier gespielt? Ein Schlüsselroman, dessen Verschlüsselungscode heute einerlei ist. Die Protagonisten heißen Natascha (historisches Vorbild: Natalja Klimowa, Tochter der ersten Ärztin Rußlands und Mitglied des radikalen Flügels der Sozialrevolutionären Partei) und Vater Jakow, der Pope (Vorbild: der Publizist Jakow Wassiljewitsch Schestakow, Märtyrer der russisch-orthodoxen Kirche). Letzterer ist der »Zeuge der Zeit«, eine Art vorzeitlicher Forrest Gump. Der Zufall – nein, das Schicksal! – will es, daß dieser reisende Pope stets dort im großen russischen Reich zugegen ist, wo historische Knotenpunkte geknüpft werden.
Wir, als Leser, erfahren an keiner Stelle genau, welcher Geist die vorrevolutionäre Terrorgruppe um Natascha beflügelt. Welche Forderungen sie an das herrschende System haben – es bleibt nebulös. Nur das: Diese jungen Leute brennen! Und wie! Sie sind Prototypen des fanatischen Selbstmordattentäters avant la lettre. Natascha und Olen (eigentlich Michail Sokolov, sechsundzwanzigjährig zum Tod verurteilt) sind, nietzscheanisch beeinflußt, die charismatischen »blonden Bestien« unter den ultralinken Zarengegner. Ihr Leben, im Untergrund mit Tarnexistenzen, im Gefängnis, für Natascha (1885–1918) dann im bohemienhaften Exil in Paris und Italien, dient einzig der »Bewegung«. Natascha zu Olen: »Was heißt denn Recht? Hier geht es nicht um Recht, sondern um ein Naturgesetz. Es gibt kein Leben ohne Gewalt. Man macht einen Schritt und zertritt einen kleinen Käfer. Es ist kein Recht, die Welt ist so. Gewalt ist etwas Natürliches und Unabdingbares.« Olen: »Aber wir sagen doch, wir kämpfen gegen Gewalt im Namen der Freiheit.«Natascha: »Ja, aber gegen die Gewalt der anderen und für unsere Freiheit. Alle kämpfen. So muß es auch sein.«
Der Erzähler hingegen weiß: Natascha »verstand kaum den Sinn dieser Begriffe. Von Natur aus war sie von schlichtem Verstand. Aber ihr Glaube war aufrichtig und echt.« Dieser numinose Glaube an die gute, gerechte Sache, er trägt sie bedingungslos durch die blutigen Zeiten. Am Ende, man kann es kaum glauben, findet Natascha ihre Bestimmung: Mutterschaft.
Michail Ossorgin, Landadel, war seit 1904 Mitglied der Sozialrevolutionären Partei. Er gewährte Geheimtreffen in seiner Wohnung und mußte beizeiten emigrieren. In Italien hatte er engen Kontakt zu den Futuristen, wurde Freimaurer und engagierte sich ab 1917 antibolschewistisch. Sein 2015 wiederentdeckter Roman Eine Straße in Moskau(1928) wurde furios gefeiert. Die beiden nun vorgelegten Nachfolger dürften zum Kanon des Gelesenhabenmüssens zählen.
Michail Ossorgins Zeugen der Zeit kann man hier bestellen.