F. M. Dostojewski: Rußland und die Welt. Politische Schriften, Wien: Karolinger 2015. 212 S., 23
Erstmals seit langem ist mit dem vorliegenden Werk wieder eine Sammlung politischer Schriften Dostojewskis in einem Band verfügbar. Der große Russe bezog als Essayist immer wieder Stellung zu den Themen des Tages ebenso wie zu Schicksalsfragen des russischen Volkes. Äußern sich Romanciers in dieser Form, hat der Leser – zumal der nachgeborene – zwischen banalen Peinlichkeiten und überraschender Gedankenklarheit alles zu erwarten. Dostojewskis politische Essays bewegen sich wohltemperiert in einem von beiden Extremen entfernten Bereich: Obwohl seinen Texten die Geistesgröße ihres Verfassers anzumerken ist, bleiben sie doch überwiegend zeitgebundene Zweckschriften.
Die vom Herausgeber Martin Bertleff ausgewählten Texte stammen aus den produktivsten Jahren von Dostojewskis Essayistik, 1873 bis 1881, als er überwiegend im Selbstverlag die Tagebücher eines Schriftstellers veröffentlichte. Es sind Einlassungen eines bereits gereiften Mannes, keine Frühschriften. Seine Phase politischen Stürmens und Drängens hatte Dostojewski bereits mit einem Todesurteil, einer Schein-exekution, vier Jahren im Straflager und erzwungenem Armeedienst bezahlt. Nicht mehr an sozialen Utopien richtet er sein Denken aus, sondern an Christus, nicht an der Nation als der Gemeinschaft der Gebildeten, sondern am einfachen Volk, das er als Träger einer besonderen, gerade auch religiösen, russischen Sendung begreift.
Das Nachwort des Herausgebers führt in knapper Form exzellent in die Gedankenwelt und intellektuelle Bedeutung Dostojewskis ein. Für den heutigen Leser ist der Band in erster Linie zum Verständnis der russischen Weltsicht vor der Wende zum 19. Jahrhundert relevant. Dostojewskis Themen sind die Themen seiner Zeit, teils greift er dem Zeitgeist auch voraus: mit der Slawophilenbewegung, der Judenfrage sowie Rußlands Stellung im Konzert der Großmächte (und dem Verhältnis zum Deutschen Reich im besonderen) bedachte er vieles von dem, was in den kommenden Jahrzehnten Europa in Atem halten sollte. Daß er daneben umständlich und weitschweifig besprach, was in kommenden Zeiten kaum mehr Bedeutung haben sollte (vom Streit zwischen »Westlern« und»Asiaten« bis zur bereits zu seiner Zeit anachronistisch anmutenden Verknüpfung konfessioneller mit außenpolitischen Fragen), gehört zur üblichen Tragik von Stellungnahmen zur Zeit.
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