So sehr die illegale Masseneinwanderung, der Deutschland seit 2015 ausgesetzt ist, das Land in Befürworter und Kritiker spaltet, so herrscht doch in einem von der Linken bis zur AfD eine grundsätzliche Einigkeit: Einwanderung sei notwendig. Ohne Einwanderung sei kein Wirtschaftswachstum zu realisieren, weil unsere Gesellschaft altere und immer weniger Arbeitskräfte hervorbringe. Gestritten wird lediglich über die Frage, ob und wie Immigration reguliert werden solle.
Daß ein Volk seine Identität, seinen Charakter und seine Kinder einem Ding opfert, das als Wirtschaftwachstum bezeichnet wird, ist erklärungsbedürftig. Der Historiker und Wirtschaftsjournalist (Wirtschaftswoche) Ferdinand Knauß (Jg. 1973) versucht weniger die Erklärung für dieses Phänomen zu liefern als überhaupt erst einmal zu beleuchten, wie das Wirtschaftswachstum, von dem vor dem Ersten Weltkrieg noch nirgends die Rede war, zu einer so mächtigen Vorstellung werden konnte, die jede andere aussticht. Die zentrale Motivation derer, »die das Wachstumsparadigma in die Welt setzten«, war von Anfang an: »Die Wachstumswirtschaft als gemeinsames Mittel, um alles Beteiligten zu Gewinnern zu machen, indem alle mehr bekommen und Verteilungskonflikte entschärft werden.«
Seinen Anfang nahm das Paradigma mit der Erfindung des Bruttosozialprodukts als volkswirtschaftlicher Gesamtrechnung aus Sicht der Produktion, die zuerst in den Vereinigten Staaten angewandt und nach 1945 auf die gesamte westliche Welt ausgedehnt wurde. Die Rede vom Wachstum war in Deutschland zuerst nach dem Ersten Weltkrieg zu vernehmen, als Inflation und Reparationsforderungen die Frage nach der Leistungsfähigkeit Deutschlands aufwarfen. Nachdem der Begriff des Wachstums etabliert war, galt er als sicherer Gradmesser für den Erfolg von Politik. Dabei spielte die Presse eine entscheidende Rolle, die die von halbstaatlichen Instituten zunehmend zur Verfügung gestellten Zahlen gerne aufnahm und verbreitete.
Nach dem Zweiten Weltkrieg stand der Durchsetzung des Wachstumsparadigmas nichts mehr im Wege, zumal sich die Presse als williger Multiplikator anbot. Knauß untersucht anhand von FAZ, Spiegel und Zeit, wie sich der Begriff immer mehr etablierte und welche unkritische Rolle die Presse dabei spielte. Dessen Erfolgslauf konnten auch Ölkrise und die daraus resultierende Wachstumskritik nicht aufhalten, nicht einmal entscheidend verzögern. In drei Interviews mit Wirtschaftsjournalisten, die ihr Geld mittlerweile alle unabhängig von der Mainstreampresse verdienen, wird deutlich, daß dieser Begriff nicht einmal intern hinterfragt wurde, so daß mit Thomas Kuhn wirklich von einem echten Paradigma gesprochen werden kann.
Knauß sieht naheliegende Gründe für diese freiwillige Gleichschaltung der Presse in bezug auf das Wachstumsparadigma. Zum einen profitierte man vom Bruttosozialprodukt, weil es die zuvor eher randständigen Wirtschaftsjournalisten zu wichtigen Meinungsmachern erhob, zum anderen haben sich diese Autoren in die Gefangenschaft der Standardökonomie begeben, aus der sie nur wieder herausfinden können, wenn sie den Blick dafür gewinnen, daß es sich auch bei der Wirtschaft und ihrer Bewertung um historische Phänomene handelt, die in zahllose andere Bedingungszusammenhänge eingebettet sind. Knauß hat als Vertreter seiner Zunft einen mutigen Schritt in diese Richtung unternommen.
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