Die Rede davon, daß »früher alles besser« gewesen sei: Für Fortschrittsgläubige ist das ein ermüdender Topos unverbesserlicher Konservativer. Die Alten kommen mit dem Wandel nicht klar, man kennt ja die uralten Sokrates-Textstellen über die verdorbene Jugend, den Verlust der Manieren undsoweiter. Allerdings müßte einer mal zählen, wieviel »Verfallsklagen« heute veröffentlicht werden im Gegensatz zu vorangegangenen Jahrzehnten! Soviel Sittenverfall wurde selten gewittert, geahnt, empfunden. Soviel Mißstandsliteratur! Ist nicht langsam alles gesagt?
Nun, gewiß nicht so profund, so nachdenklich und so eloquent wie von Theodore Dalrymple in dieser Sammlung von acht Aufsätzen. Gewiß, ein Paradox: aus dem Untergang Nektar zu saugen – allein, hier ist es der Fall. Dalrymple ist das Pseu-donym des britischen Psychiaters Anthony Daniels, Jahrgang 1949. Der preisgekrönte Essayist kennt die Welt (er war in Nordkorea, in Liberia, er war Zaungast in mittel-amerikanischen Guerillakämpfen, arbeitete in Simbabwe und Tansania), und er kennt ihre Bewohner. Mit solcher Lebens- und Berufserfahrung taugt man kaum zum Optimisten. Nichtsdestoweniger füllt dem Misanthropen Dalrymple nicht schwarze Galle die Feder, hier wird der nüchterne Blick eines überaus belesenen Tatmenschen Wort. Zugleich hält der Autor (Sohn eines Kommunisten und einer deutschen Jüdin) in jeder Hinsicht maß: Er geißelt die Überfremdung, ohne sich in nationalistische Gefilde zu verirren; er prangert die Sünden des Wohlfahrtstaates an, ohne libertäre Konsumgeilheit aus den Augen zu verlieren, er verachtet Marx, schätzt aber Turgenjew. Schwer zu sagen, welchen dieser allesamt hervorragenden Aufsätze man am meisten rühmen sollte: Ist es der über den britischen Nationalcharakter? Ist es der über »Die Kultur der Unterschicht«, in dem der Autor aus klinischer Erfahrung über das »Anschwellen des Asozialen nicht nur in Großbritannien« schreibt?
Dalrymple kennt diese modernen Familiengeschichten zuhauf – Frauen mit vier Kindern von drei Vätern, Männer mit fünf Kindern von vier Frauen, alle sind unglücklich, oft kriminell, sie nennen es »Depression«. Niemand hat diese armseligen Leute gezwungen, am Laufband unvernünftige Entscheidungen zu treffen. Und doch liegt eine Mitschuld am Entstehen dieses Sumpfes beim Staat (der die entsprechenden Fürsorgegesetze schuf) und bei seinen Intellektuellen (die einen permissiven Lebenswandel beförderten). Oder ist es der Aufsatz »Totgedacht«, in dem Dalrymple erstaunliche Parallelen zwischen der marxistisch-leninistischen Ideologie und dem Islamismus herausarbeitet? »Hingabe an eine Ideologie kann eine Antwort auf diverse persönliche Probleme sein, und da persönliche Probleme sehr häufig vorkommen, überrascht es nicht, daß eine ganze Reihe von Menschen Ideologie als Gegengift wählt.« Menschheitsbeglückungsphantasien steht Dalrymple – eine Art anglophone Version von Friedrich Sieburg – skeptisch gegenüber. Daß er dennoch kein Zyniker geworden ist, macht seine Aufsätze zu Perlen.
Theodore Dalrymples Der Untergang Europas kann man hier bestellen.