Rüdiger Voigt (Hrsg.): Staatsdenken. Zum Stand der Staatstheorie heute, Baden-Baden: Nomos 2016. 534 S., 98 €
An Abhandlungen zur Staatstheorie herrscht wahrlich kein Mangel. Daß sich deutsche akademische Diskussionen über Wert und Rolle des Staates in Gegenwart und Zukunft heute nicht nur um Wohlstandskritik, Grenzöffnung und außenpolitische Libertinage drehen, sondern das klassische, den Staat in den Mittelpunkt der Überlegungen stellende politische Denken nach wie vor (oder wieder?) an den Universitäten eine Heimstatt hat, ist wesentlich ein Verdienst von Rüdiger Voigt. Der Emeritus der Münchner Bundeswehruniversität ediert seit 16 Jahren eine bald 100 Bände fassende Buchreihe mit Sammelbänden zu Staatsauffassungen durch die ganze Weltgeschichte. Die kaum mehr zu überschauende Vielfalt der dort behandelten Themen hat Voigt nun in ein nach Personen und Themen geordnetes Lexikon des Nachdenkens über den Staat eingefaßt.
Daß der Herausgeber (leider nicht alle seiner Autoren!) es sich als Emeritus leisten kann, ohne Scheuklappen durch die Geistesgeschichte zu ziehen, zeigt sich bereits an der thematischen Aufteilung der Beiträge. Neben dem liberalen Staatsdenken steht selbstverständlich das konservative (mit Lemmata zu Burke, A. Müller, Stahl und Lübbe), dem revolutionären Staatsdenken gesellt sich das reaktionäre zu (Maistre, Bonald, Donoso Cortés und Benoist). Allein Benoist als Klassiker der politischen Theorie neben z.B. Hobbes (»Klassisches Staatsdenken«), Max Weber (»Modernes«), Stirner (»Anarchistisches«) oder Schmitt (»Radikales«) zu finden, ist eine Sensation. Damit nicht genug, würdigt der Autor (Nobert Campagna, 2004 auch hervorgetreten durch eine Schmitt-Einführung) Benoists Werk in abgewogener, gerechter Weise. Auch der Beitrag zu Donoso Cortés wird angepaßten akademischen Lohnschreibern Unbehagen erwecken, stammt er doch vom Frankfurter Privatgelehrten Günter Maschke.
Diese Lichtblicke werden etwas verdunkelt durch die offenbar unvermeidlichen Zugeständnisse an den Geist der Zeit. Allen Ernstes wird ein »Feministisches Staatsdenken« präsentiert, dessen im Band wiedergegebenen Einsichten und Absichten geradezu deprimierend einfältig sind. Allein die gelungene Zusammenfassung des antiken Staatsdenkens mit den Repräsentanten Thukydides, Platon, Aristoteles, Polybios, Cicero und Tacitus entschädigt für solche modernistischen Pflichtübungen. Hervorzuheben sind die exzellenten Platon- und Aristoteles-Einführungen von Barbara Zehnpfennig, die deren umfangreiche Lebenswerke nebst Jahrhunderten der Rezeptionsgeschichte mit leichter Hand in den Griff bekommt. Lehrreich und angesichts der zunehmenden Hinterfragung eurozentrischer Haltungen dringend nötig sind auch die Einblicke in das Staatsdenken in China, Japan, Indien, der arabischen Welt und Afrika (vor-/nachkolonial).
Der lobenswerte Band schließt mit Essays zu wesentlichen Zukunftsfragen: »Globalisierung«, »Souveränitätsverlust?«, »Staatenbildung und Staatszerfall« sowie»Der Staat in der Postdemokratie«. Am Ende fragt der Herausgeber nach der »Staatsrenaissance« unserer Tage und kommt zu dem Schluß, daß der neue »harte« Staat der Überwachung und Sicherheitsverheißungen an den Hobbesschen Schutzstaat erinnere. Doch dessen Schutzleistungen kämen im 21. Jahrhundert in erster Linie der politischen und wirtschaftlichen Elite zugute. Voigt verpackt seinen Befund in ein wenig rechtsstaatliche und demokratische Watte, wird aber dennoch deutlich: »Es ist schwer vorstellbar, daß sich diejenigen, die die Macht innehaben, freiwillig von dieser Macht trennen werden. Der ›Kampf gegen den Terror‹ ist dabei nicht nur in autoritär geführten Staaten ein willkommener Vorwand, jeden Widerstand für illegal zu erklären.« Der Leviathan als Beute.
Staatsdenken von Rüdiger Voigt kann man hier bestellen.