Boualem Sansal: 2084. Das Ende der Welt.

Boualem Sansal: 2084. Das Ende der Welt, Gifkendorf: Merlin 2016. 281 S., 24 €

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Fran­zö­si­che Intel­lek­tu­el­le haben Ende Juni in der links­li­be­ra­len Tages­zei­tung Libéra­ti­on einen Auf­ruf ver­öf­fent­licht, mit dem sie vor dem radi­ka­len Islam warn­ten und als Gegen­mit­tel mehr »kul­tu­rel­len Wider­stand« und »repu­bli­ka­ni­sche Stren­ge« for­der­ten. Unter­zeich­net hat den Appell auch der alge­ri­sche Schrift­stel­ler Boua­lem San­sal (*1949), der in fran­zö­si­cher Spra­che schreibt, mit sei­ner Fami­lie aber bei Algier lebt. Das ist kein Zucker­schle­cken: Die Stel­le eines hoch­ran­gi­gen Beam­ten im alge­ri­schen Indus­trie­mi­nis­te­ri­um ver­lor San­sal nach der Ver­öf­fent­li­chung sei­nes ers­ten Romans (Der Schwur der Bar­ba­ren, 1999). Außer­dem warnt er vor der Per­ver­tie­rung des Islams.

So äußer­te er 2011 in einem Inter­view, die­se Reli­gi­on sei »ein furcht­ein­flö­ßen­des Gesetz gewor­den, das nichts als Ver­bo­te aus­spricht, den Zwei­fel ver­bannt und des­sen Eife­rer mehr und mehr gewalt­tä­tig sind.« Die Anschlä­ge auf das Sati­re­ma­ga­zin Char­lie Heb­do und das Rock­kon­zert im Bata­clan-Thea­ter bewer­te­te er als Kon­se­quenz aus dem Stre­ben des radi­ka­len Islams nach Tota­li­tät und Welt­herr­schaft. In Allahs Nar­ren. Wie der Isla­mis­mus die Welt erobert (2013) faß­te San­sal sei­ne Kri­tik zusammen.

Wie das Leben nach dem Sieg eines tota­li­tä­ren Islams sein könn­te, schil­dert San­sal in sei­nem 2015 erschie­nen Roman 2084. Das Ende der Welt (der Titel ist natür­lich eine Anspie­lung). Die deut­sche Über­set­zung erfährt die­ser Tage ihre fünf­te Auf­la­ge, und in Frank­reich wur­de 2084 bereits im Okto­ber des ver­gan­ge­nen Jah­res mit dem Grand Prix du Roman aus­ge­zeich­net – der Roman ist nach Michel Hou­el­le­becqs Unter­wer­fung bin­nen eines Jah­res der zwei­te fran­zö­sisch-lite­ra­ri­sche Blick in eine isla­mi­sche Zukunft. Die Unter­schie­de sind jedoch enorm: Wäh­rend bei Hou­el­le­becq eine gemä­ßig­te Vari­an­te des Islams in Frank­reich zur Macht kommt, die das Land mit sanf­tem Druck und finan­zi­el­len Anrei­zen umbaut, ist es bei San­sal eine radi­ka­le, tota­li­tä­re, ent­mün­di­gen­de und ahis­to­ri­sche Reli­gi­on, die jeden in ein Kor­sett aus Regeln, Stra­fen, Denun­zia­ti­on und Beginn­lo­sig­keit ein­schnürt. Es fal­len nir­gends die Namen Allah oder Moham­med, auch die Begrif­fe Koran, Sure oder Scha­ria tau­chen nicht auf; aber es besteht kein Zwei­fel, daß die Reli­gi­on im Roman sich die stu­re Geist­fer­ne eines radi­kal-poli­ti­schen Islams zum Vor­bild nimmt.

Die Haupt­fi­gur Ati ist viel­leicht drei­ßig Jah­re alt. Ati glaubt an Yöl­ah, den All­mäch­ti­gen, und an des­sen Gesand­ten Abi, und sein Leben voll­zieht sich lang­sam, im War­te­zu­stand, vor­zi­vi­li­siert. Man arbei­tet und betet, nichts ist pri­vat, jeder ist Spit­zel und Denun­zi­ant, und die Selbst­kri­tik ist eine lebens­ge­fähr­li­che Pflicht, die nicht sel­ten zur grau­sa­men, got­tes-dienst-ähn­li­chen Hin­rich­tung im Sta­di­on führt. Das »Leben« wird an sich ver­geu­det, aber das sieht nie­mand so, denn ent­we­der wis­sen die Leu­te nicht mehr, daß es auch anders sein könn­te, oder sie zucken vor der Vor­stel­lung, daß es da eine Ent­fal­tungs­mög­lich­keit geben könn­te, zurück wie eine Hand vor einer glü­hen­den Tür­klin­ke. Ati aber öff­net die Tür, in Etap­pen, schwan­kend. Hin: »Was sein Geist ver­warf, war nicht so sehr die Reli­gi­on als viel­mehr der Druck, den sie auf den Men­schen aus­üb­te«, her: »Er fand die Freu­de wie­der, zu glau­ben, ohne sich Fra­gen zu stel­len«, und dann doch die Gewiß­heit, »daß der Mensch nur in der Revol­te und durch die Revol­te exis­tiert und sich entdeckt«.

Und so kommt es dann auch: Ati und sein Freund Koa revol­tie­ren. Sie ent­de­cken die Ghet­tos einer vor­gläu­bi­gen, unter­ge­gan­ge­nen Zeit, sit­zen in Räu­men, die nicht bis auf einen Gebets­tep­pich geleert sind, son­dern voll­ge­stopft mit Ses­seln, Geschirr, Bil­dern und Büchern, und sie trin­ken Kaf­fee und essen ech­tes Obst und Gemü­se, und nicht mehr den mit Psy­cho­phar­ma­ka ver­setz­ten Einheitsbrei.

Geht es vor­an mit den bei­den? Sto­ßen sie etwas an? Oder gehö­ren sie als gedul­de­te Geg­ner und Quer­schlä­ger zur Sys­tem­sta­bi­li­sie­rung, weil die­ses Sys­tem lie­ber ein paar Abtrün­ni­ge bekämpft, die es selbst in die Welt stell­te? Der Roman ant­wor­tet frag­men­ta­risch, ver­wor­ren. Ati und Koa ver­su­chen, ins Zen­trum der Macht vor­zu­sto­ßen, aber da ist kein Geg­ner, son­dern ein gigan­ti­sches Gebäu­de, ein rie­sen­haf­ter Appa­rat, dem nicht bei­zu­kom­men ist. Das Aus­sichts­lo­se eines jeden Auf­stands sichert die Macht nicht min­der effek­tiv als die wach­sa­me Grau­sam­keit der Spitzel.

Es bleibt – Resi­gna­ti­on: »Was tun, wenn man beim Betrach­ten der Ver­gan­gen­heit die Gefahr auf jene zura­sen sieht, die uns in der Geschich­te vor­aus­gin­gen? Wie soll man sie war­nen?« Das fra­gen wir uns heu­te auch, nicht wahr? Was tun? »Man wird sei­ne For­schun­gen fort­set­zen, davon über­zeugt, daß sie eines Tages nütz­lich sein wer­den; wenn die Men­schen guten Wil­lens fähig sind, sich gegen­sei­tig zu erken­nen und zu mobi­li­sie­ren, wer­den sie das Mate­ri­al fin­den, das man so müh­sam gesam­melt hat.« So eine klei­ne, blin­de Hoff­nung kann nur ein Intel­lek­tu­el­ler for­mu­lie­ren. Was soll er auch sonst tun?

Boua­lem San­sals 2084 kann man hier bestel­len.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)