Das war’s. Diesmal mit: Auschwitz als Chance …

Schwulsein als Möglichkeit und Blutspinne als Pflicht.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

22. Juli – Schwei­gend sit­zen wir in einem Café in Kat­to­witz. Wir schwei­gen lan­ge. Wir schwei­gen indis­kret. Darf man das? „Der Lau­scher an der Wand / hört sei­ne eig­ne Schand.“ Ist es so? Und darf man ergän­zen: „doch das Gespräch /war intressant“?

Rekon­stru­ier­bar ist (in aller Inde­zenz) dies: Es han­delt sich offen­kun­dig um fünf jun­ge deut­sche Frau­en aus West­deutsch­land, die vor einem Jahr ihr Abitur absol­viert haben und sich nun auf einer gemein­sa­men „Polen­fahrt“ wiedertreffen.

Eini­ge stu­die­ren bereits, ande­re haben „Aus­lands­er­fah­run­gen“ gesam­melt. Eine merkt an, sie star­te nun mit 1200 Euro Schul­den ins Stu­di­um. Sie hat in Indi­en armen Kin­dern gehol­fen. Flug, Unter­kunft etc. muß­te sie selbst finan­zie­ren. Eigent­lich mache man das über Spen­den­ein­wer­bung in der Fami­lie, der Nach­bar­schaft, bei Ver­ei­nen. Sie selbst, O‑Ton, sei aber „zu doof dazu“ gewe­sen und habe sich zu wenig getraut. Aber sie habe heu­te „so einen Hals“, wenn sie sehe, wie Nach­barn, Fami­lie etc. ihr Geld „ver­pras­sen“.

Eine lan­ge Zeit hören wir Kla­gen übers Wet­ter. „In Deutsch­land brü­ten sie bei über 30 Grad, und wir haben hier Dau­er­re­gen.“ Vie­le die­ser Gesprächs­fet­zen wer­den durch ver­ba­li­sier­te Netz­kür­zeln flan­kiert: „LOL“ sagt eine, „ROFL“ eine ande­re. Dem in die­ser Hin­sicht alt­mo­di­schen Kubit­schek muß ich das über­set­zen: rol­ling on the flo­or laug­hing, auf Deutsch so viel wie: „sich vor Lachen auf dem Boden wälzen“.

Nun gibt es eine Art Streit. „Eine Art“ des­halb, weil die­ses Gespräch (es geht dar­um, ob man in Polen ein ita­lie­ni­sches Gericht bestel­len kann, in Fra­ge ste­hen mora­li­sche Gesichts­punk­te) unter den Vor­ga­ben einer psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Grup­pen­sit­zung abläuft. Immer wie­der flankt ent­we­der die Rot­haa­ri­ge oder die Harems­ho­sen­trä­ge­rin dazwi­schen: „Ich fin­de, Du soll­test X kom­plett aus­re­den las­sen.“ Oder: „Für mein Gefühl bist Du Y zu nahe getre­ten. Ich weiß nicht, wie Du selbst das siehst?“

Dann aber, beim Essen, geht es wirk­lich wild durch­ein­an­der. Ein poten­ti­el­les Aus­flugs­ziel wird diskutiert:

„Also, ich bin sehr für Ausch­witz.“ – „Ohnee! Das wär noch mal eine Stun­de Fahrt!“- „Also, ich wäre auch sehr dafür. Ich mein, so nah dran wer­de ich wohl in mei­nem Leben nicht mehr sein. Ich würd sagen, ich begreif das als ein­ma­li­ge Chan­ce. Laßt uns hin­fah­ren.“ – „Hm. Ich weiß nicht, aber Ausch­witz reizt mich nicht so.“ – „Hm, ja… Nach allem, was ich gehört hab, also ich hab mich ein biß­chen infor­miert, soll es auch nicht soo toll sein. Sehr kalt hat. Mal abge­se­hen vom Wet­ter.“- „Sehr kalt?? Du … ich mein, was erwar­test Du?!“ – „Nee, bit­te, ver­steh mich nicht falsch. Ich hab für mich ein­fach das Gefühl, daß ich das grad jetzt nicht aus­hal­ten wür­de. Ich mei­ne, für so etwas muß man in Form sein.“

Eine vier­te „Stim­me der Ver­nunft“ schal­tet sich ein: „ Heu­te Legen­dia [hab gegoo­gelt: ein Frei­zeit­park nahe Kat­to­witz], mor­gen Ausch­witz, ey Leu­te, wir woll­ten doch vor allem chillen?“

Soweit wir das Neben­tisch­ge­spräch ver­fol­gen konn­te, wur­de 3: 2 gegen Ausch­witz ent­schie­den. Strikt demo­kra­tisch, klar. Kann man nicht erfin­den, sowas.

– – –

24. Juli – Die Kleins­te spielt mit ihren Freun­din­nen seit Tagen „wir hät­ten einen Laden“. (Aus Ton­er­de wer­den Kera­mik­wa­ren her­ge­stellt, mit Was­ser­fa­be ange­pin­selt und zum Mini­mal­preis feil­ge­bo­ten.) Dann, „wir hät­ten ein Tier­heim“ (es geht wie­der­mal mit dem ollen Kin­der­wa­gen samt Kat­zen- und Hasen­ba­bies durchs Dorf.)

Und: „ Wir hät­ten einen Zir­kus“, es gibt Tram­po­lin­akro­ba­tik, Fahr­rad­kunst, eine Zie­gen- und eine Gän­se­num­mer und natür­lich toll gestal­te­te Ein­tritts­kar­ten für alle Fami­li­en­mit­glie­der und Verlagsmitarbeiter.

Es gibt ein klei­nes Pro­blem, als Freun­din M. vor­schlägt, „wir wären schwul“.

Toch­ter: „Mama, Du fin­dest es wahr­schein­lich eh nicht soo toll, aber was soll man spie­len, wenn man schwul wär? Die M. hat gesagt, man hört halt so coo­le Musik [Toch­ter weiß schon, wie man Gän­se­füß­chen in die Luft zeich­net], zieht sich schön an und hat vie­le Kin­der. Min­des­tens drei, und aus allen Län­dern. Aber wie sol­len wir das machen? Und woher die Kin­der über­haupt kom­men sol­len – weil schwul, Du weißt schon… – hab ich nicht verstanden.“

Es ist ohne­hin gera­de Mit­tag­essen­zeit, und Freun­din M. ( aus tra­di­tio­nel­lem Dorf­haus­halt mit vie­len Kin­dern) wird ange­le­gent­lich aus­ge­fragt: „Guckt Ihr Zu Hau­se eigent­lich viel fern? Was genau? Was davon heimlich?“

Es ist exakt so, wie wir dachten.

Wir re-indok­tri­nie­ren ein wenig. M. sagt schließ­lich, Schwul­sein habe sie sowie­so nie wirk­lich spie­len wol­len. Wie sol­le das auch gehen?

– – –

25. Juli – Nach­dem Weg­fall der Schwul­spiel­op­ti­on ist die „Töp­fer­werk­statt“ in Dau­er­be­trieb. Die Klei­nen hocken unter dem Bal­kon im Schat­ten und man­schen mit Lehm. Über ihnen: lau­ter Spin­nen­net­ze. Wir haben sie letz­te Woche kom­plett weg­ge­fegt, sie sind wie­der da.

Die Freun­din­nen ekeln sich manch­mal. Ich belau­sche die Toch­ter bei ihren alt­klu­gen Erklä­run­gen: „Also, der Hei­li­ge Kon­rad [ich kann­te die­se Geschich­te gar nicht, E.K.] hat ja einen Kelch mit dem Blut Chris­ti getrun­ken, obwohl dar­in eine Spin­ne saß. Aber es konn­te das Blut ja nicht ver­geu­den. Also hat er’s aus­ge­trun­ken. Dar­an muß ich immer den­ken, wenn ich Spin­nen sehe: Die tun uns ja nichts. Und wir müs­sen sie ja nor­ma­ler­wei­se nicht in den Mund nehmen.“

Die Freun­din­nen waren beein­druckt und pam­per­ten weiter.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (11)

Maiordomus

25. Juli 2018 14:00

Unglaublich, dass Kinder, anstelle der Weltraumhelden von Internetspielen, noch Heilige auf eine Art und Weise identifizieren und von ihnen zu reden wissen, als ob es sich um Familienmitglieder handeln würde. Diese Erbschaft könnte möglicherweise noch nachhaltiger sein als die unvermeidlichen Konfrontationen mit dem politischen Ruf der Familie.

Am meisten beeindruckte mich bei dieser Geschichte der heilige Konrad, in gewissem Sinn auch Patron gegen die Arachnophobie. Für sein Naturverständnis war zum Beispiel der Rheinfall bei Neuhausen eine Wasserhölle, weswegen er mit seinem Genossen, dem heiligen Ulrich von Augsburg, zwei über der tosenden Gischt fliegende Reiher für abgeschiedene Seelen von Verstorbenen hielt, für die die beiden heiligen Bischöfe dann je eine Messe lasen. Die Reliquien des heiligen Konrad sind grossteils in einem kostbar gefassten Reliquiar im Kryptabereich des Konstanzer Münsters zur Verehrung ausgestellt, unweit der berühmten Mauritius-Rotunde, wo die Requisiten der Jakobspilger gesegnet wurden.

Bei der Spinnengeschichte geht es auch um eine Art Immunisierung gegen das Böse. Die Frage ist, ob dies einen Zusammenhang habe mit der oben erzählten Auschwitz-Geschichte. Auch dort liegt mutmasslich eine Art Immunisierungs-Prozess vor.

Ein gebuertiger Hesse

25. Juli 2018 14:58

Freilich, das "chillen" bekommt gegenüber dem "Chill" den Zuschlag, auch wenn letzterer ebenfalls seine wohlig-frösteligen Meriten hat, gerad wenn er bei KZ-Besuchen aufkommt. So ist sie eben, die letztverbliebene Jeunesse dorée. Und nur böse Zungen wie die hiesigen würden ihr das madig machen wollen. Aber die kann man zum Glück ignorieren.
"Jeder Generation sieht sich nicht zuletzt der Herausforderung gegenüber, in offene Messer zu laufen, die genau für sie aufgeklappt werden." (Dávila, dem Sinn nach)

wodantok

25. Juli 2018 15:38

Danke für diesen Artikel

RMH

25. Juli 2018 15:48

Dieser KL-Tourismus ist eben Teil der faktisch stattfindenden "Historisierung" des Themas - auch wenn sich die Politik dagegen stemmt wie gegen sonst nichts.

Dieses Phänomen ist sehr gut auch bei den deutschen KL zu beobachten. Ich habe schon vor Jahren bei einem Besuch des Lagers Buchenwald bspw. erlebt, wie 2 Lehrkräfte alle Hände voll zu tun hatten, die pubertierenden, kichernden und z.T. grölenden Schüler halbwegs im Zaum zu halten, zudem war Sommer und die Mädchen hatten fast nichts mehr an - stört ja sonst niemanden auf "Klassenfahrt". In Hot Pants und mit ner Cola Dose in der Hand mal eben mit Nike Sneakers an den Füßen über den Platz geschlurft, wo Tausende sowohl unter dem NS als unter dem kommunistischen Terror gelitten haben und gestorben sind (komplettes Versagen jeglicher Museumspädagogik). Ich empfand es damals als pietätslos und die Lehrer waren sicher froh, als der Tag vorbei war. Aber Hauptsache, der vom Staat verlangte Punkt der Fahrt zu einem KL kann auf dem Lehrplan abgehakt werden. Dieser Tourismus trägt mehr zur Profanisierung und Banalisierung der Geschichte bei, als alle "Revisionisten" zusammen bzw. deutlich mehr - ich stelle an diesem Punkt einmal die steile These auf, dass die H-Religion den Revisionisten und sogar den Leugner so notwendig hat, wie der wahre Glaube den Teufel und wenn es diese nicht gäbe, der entsprechende Glaube auch eher hinfällig würde (bitte dazu jetzt keine Grundlagendiskussion starten).

Das Ganze ist mittlerweile so ähnlich, wie man schon seit längerer Zeit eben belanglos an den Folterinstrumenten, mit denen dereinst Hexen und Hexer gequält wurden, im Kriminalmuseum in Rothenburg o.d.T. vorbeischlendert ... neudeutsch: .... wayne???

Maiordomus

25. Juli 2018 17:57

@RMH. Das, was Sie treffend ausführen, ist es wohl, was ich oben in einem in diesem Fall nicht gerade schmeichelhaften Sinne als "Immunisierung" gemeint habe.

nom de guerre

25. Juli 2018 19:06

Dass heutige junge bis sehr junge Menschen einen Besuch in Auschwitz nur als etwas erleben, was man eben macht, wenn man schon mal da ist, ist das unmittelbare Ergebnis des ständigen, ritualisierten Wiederaufwärmens dieses Themas gerade auch im Schulunterricht. Ich selbst war mal Teil eines solchen Klassenausflugs nach Buchenwald, wie @ RMH ihn beschreibt. Es muss irgendwann in der Mittelstufe gewesen sein, genau weiß ich es nicht mehr. Allerdings kann ich mich erinnern, dass ich diesen Anspruch an uns Schüler, jetzt gefälligst mal auf Knopfdruck betroffen zu sein, als Zumutung empfunden habe. Das, was dem Besucher dort an Schrecklichkeiten präsentiert wird, ist so monströs, dass es in den Alltag von Jugendlichen m.E. einfach nicht hineingehört. Jedenfalls nicht auf die Art, heute fahren wir nach Buchenwald, da gibt es dann eine Schautafel, wonach der Kommandant sich aus der Haut von toten Häftlingen Lampenschirme machen ließ (oder verwechsle ich das? war das nicht Buchenwald?), und morgen üben wir dann in Mathe wieder Wurzelziehen. Ach ja, und dass die Russen ab 45 das Lager fast übergangslos für andere missliebige Personen weiterverwendet haben und die Zustände dabei nicht wirklich besser waren, erwähnen wir bestenfalls in einem Nebensatz.
Über KZs und Verfolgung im Dritten Reich habe ich in meiner Studienzeit einiges gelesen (privat, nicht weil ich musste), unter anderem von Primo Levi, Jorge Semprun, Aleksandar Tisma oder auch die Erinnerungen von Marga Spiegel (ohne KZ), und habe aus jedem dieser Bücher mehr "mitgenommen", als es die offizielle Dauerbetroffenheit je vermocht hätte. Das mag aber auch daran liegen, dass keiner dieser Autoren (auch nicht Frau Spiegel) Teil des deutschen Vergangenheitsbewältigungskrampfs ist/war, der solche seltsamen Gespräche unter Abiturientinnen auf Reisen hervorbringt.

Rafael Wedel

25. Juli 2018 20:42

Also wenn die Schüler in der Oberstufe in „Darstellendes Spiel“ selbst eine Story ausdenken sollten, lief das eigentlich immer auf irgendwas mit Nazis oder irgendwas mit Schwulen hinaus. Nicht vom Lehrer kommend und auch von unpolitischen Schülern. Tägliche Indoktrination über alle Kanäle halt.

Fredy

25. Juli 2018 22:26

Ich hab nur gute Erinnerungen an Buchenwald und Auschwitz. Darf man das eigentlich so sagen? Viele Aha-Erlebnisse. Schluckaufgefahr.

MartinHimstedt

26. Juli 2018 00:04

Wie bereits auf der SiN erwähnt, ging ich auf eine Problemschule mit einer muslimischen/migrantischen Mehrheit. In der Grund- oder Hauptschule besuchten wir ebenfalls ein KZ. Und meinen Mitschülern aus dem sonnigen Süden, die sich bereits vorher durch einen latenten Antisemitismus auszeichneten, fanden es dort so toll, dass sie Hakenkreuze ins Besucherbuch malten. Dieses Erlebnis und die Tatsache, dass sich Opa und Oma im KZ kennengelernt haben, muss ausreichend sein. Ich wähle also ebenfalls den Freizeitpark in Kattowitz.

Sandstein

26. Juli 2018 09:17

Danke an EK. Immer wieder eine Macht diese Texte!

Ich war mit 15 Jahren ein Jahr im polnischen Ausland, musste notgedrungen 3x auf Exkursionen nach Auschwitz. Die Ankunft vor dem Lagertor in Buchenwald werde ich nie vergessen können, da hat sich eine Melange aus Eindruck, Geruch und Stimmung eingebrannt.
Jeder sollte mal da gewesen sein. Aber natürlich nur, wenn es nicht zu unchillig ist.

Gibt es eigentlich eine Begründung, warum 5 Kerle die nach Polen in den Puff fahren und sich bei jedem Stopp an der Tankstelle grenz-debil über Autos, PS und wasweißich unterhalten, als Proleten gelten, diese jungen Fräuleins, die ähnlich viel auf dem Kasten haben dürften wie die "5Kerle", aber gesellschaftlich als gebildete und engagierte Zukunftshoffnung durchgehen? Das frappiert mich immer wieder.
Und das ist genau die Sorte Mensch, die später in Redaktionsstuben sitzt, und ihr Herz ausschüttet.

Na Klasse -_-

Leser

29. Juli 2018 01:02

Ich erinnere mich schwach, mit einer größeren Zahl von FDJ'lern abends auf Armeelastern in die Buchenwald - Gedenkstätte gefahren zu sein, für irgendeine monströse Veranstaltung. Später bin ich nochmal alleine mit dem Fahrrad hoch und habe den langweiligen Monumentalbau auf mich wirken lassen. Heute wandere wir gerne auf der anderen Seite des Berges (Schloß Ettersburg, schöne Gegend) - das "Thema" interessiert niemand mehr.

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