22. Juli – Schweigend sitzen wir in einem Café in Kattowitz. Wir schweigen lange. Wir schweigen indiskret. Darf man das? „Der Lauscher an der Wand / hört seine eigne Schand.“ Ist es so? Und darf man ergänzen: „doch das Gespräch /war intressant“?
Rekonstruierbar ist (in aller Indezenz) dies: Es handelt sich offenkundig um fünf junge deutsche Frauen aus Westdeutschland, die vor einem Jahr ihr Abitur absolviert haben und sich nun auf einer gemeinsamen „Polenfahrt“ wiedertreffen.
Einige studieren bereits, andere haben „Auslandserfahrungen“ gesammelt. Eine merkt an, sie starte nun mit 1200 Euro Schulden ins Studium. Sie hat in Indien armen Kindern geholfen. Flug, Unterkunft etc. mußte sie selbst finanzieren. Eigentlich mache man das über Spendeneinwerbung in der Familie, der Nachbarschaft, bei Vereinen. Sie selbst, O‑Ton, sei aber „zu doof dazu“ gewesen und habe sich zu wenig getraut. Aber sie habe heute „so einen Hals“, wenn sie sehe, wie Nachbarn, Familie etc. ihr Geld „verprassen“.
Eine lange Zeit hören wir Klagen übers Wetter. „In Deutschland brüten sie bei über 30 Grad, und wir haben hier Dauerregen.“ Viele dieser Gesprächsfetzen werden durch verbalisierte Netzkürzeln flankiert: „LOL“ sagt eine, „ROFL“ eine andere. Dem in dieser Hinsicht altmodischen Kubitschek muß ich das übersetzen: rolling on the floor laughing, auf Deutsch so viel wie: „sich vor Lachen auf dem Boden wälzen“.
Nun gibt es eine Art Streit. „Eine Art“ deshalb, weil dieses Gespräch (es geht darum, ob man in Polen ein italienisches Gericht bestellen kann, in Frage stehen moralische Gesichtspunkte) unter den Vorgaben einer psychotherapeutische Gruppensitzung abläuft. Immer wieder flankt entweder die Rothaarige oder die Haremshosenträgerin dazwischen: „Ich finde, Du solltest X komplett ausreden lassen.“ Oder: „Für mein Gefühl bist Du Y zu nahe getreten. Ich weiß nicht, wie Du selbst das siehst?“
Dann aber, beim Essen, geht es wirklich wild durcheinander. Ein potentielles Ausflugsziel wird diskutiert:
„Also, ich bin sehr für Auschwitz.“ – „Ohnee! Das wär noch mal eine Stunde Fahrt!“- „Also, ich wäre auch sehr dafür. Ich mein, so nah dran werde ich wohl in meinem Leben nicht mehr sein. Ich würd sagen, ich begreif das als einmalige Chance. Laßt uns hinfahren.“ – „Hm. Ich weiß nicht, aber Auschwitz reizt mich nicht so.“ – „Hm, ja… Nach allem, was ich gehört hab, also ich hab mich ein bißchen informiert, soll es auch nicht soo toll sein. Sehr kalt hat. Mal abgesehen vom Wetter.“- „Sehr kalt?? Du … ich mein, was erwartest Du?!“ – „Nee, bitte, versteh mich nicht falsch. Ich hab für mich einfach das Gefühl, daß ich das grad jetzt nicht aushalten würde. Ich meine, für so etwas muß man in Form sein.“
Eine vierte „Stimme der Vernunft“ schaltet sich ein: „ Heute Legendia [hab gegoogelt: ein Freizeitpark nahe Kattowitz], morgen Auschwitz, ey Leute, wir wollten doch vor allem chillen?“
Soweit wir das Nebentischgespräch verfolgen konnte, wurde 3: 2 gegen Auschwitz entschieden. Strikt demokratisch, klar. Kann man nicht erfinden, sowas.
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24. Juli – Die Kleinste spielt mit ihren Freundinnen seit Tagen „wir hätten einen Laden“. (Aus Tonerde werden Keramikwaren hergestellt, mit Wasserfabe angepinselt und zum Minimalpreis feilgeboten.) Dann, „wir hätten ein Tierheim“ (es geht wiedermal mit dem ollen Kinderwagen samt Katzen- und Hasenbabies durchs Dorf.)
Und: „ Wir hätten einen Zirkus“, es gibt Trampolinakrobatik, Fahrradkunst, eine Ziegen- und eine Gänsenummer und natürlich toll gestaltete Eintrittskarten für alle Familienmitglieder und Verlagsmitarbeiter.
Es gibt ein kleines Problem, als Freundin M. vorschlägt, „wir wären schwul“.
Tochter: „Mama, Du findest es wahrscheinlich eh nicht soo toll, aber was soll man spielen, wenn man schwul wär? Die M. hat gesagt, man hört halt so coole Musik [Tochter weiß schon, wie man Gänsefüßchen in die Luft zeichnet], zieht sich schön an und hat viele Kinder. Mindestens drei, und aus allen Ländern. Aber wie sollen wir das machen? Und woher die Kinder überhaupt kommen sollen – weil schwul, Du weißt schon… – hab ich nicht verstanden.“
Es ist ohnehin gerade Mittagessenzeit, und Freundin M. ( aus traditionellem Dorfhaushalt mit vielen Kindern) wird angelegentlich ausgefragt: „Guckt Ihr Zu Hause eigentlich viel fern? Was genau? Was davon heimlich?“
Es ist exakt so, wie wir dachten.
Wir re-indoktrinieren ein wenig. M. sagt schließlich, Schwulsein habe sie sowieso nie wirklich spielen wollen. Wie solle das auch gehen?
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25. Juli – Nachdem Wegfall der Schwulspieloption ist die „Töpferwerkstatt“ in Dauerbetrieb. Die Kleinen hocken unter dem Balkon im Schatten und manschen mit Lehm. Über ihnen: lauter Spinnennetze. Wir haben sie letzte Woche komplett weggefegt, sie sind wieder da.
Die Freundinnen ekeln sich manchmal. Ich belausche die Tochter bei ihren altklugen Erklärungen: „Also, der Heilige Konrad [ich kannte diese Geschichte gar nicht, E.K.] hat ja einen Kelch mit dem Blut Christi getrunken, obwohl darin eine Spinne saß. Aber es konnte das Blut ja nicht vergeuden. Also hat er’s ausgetrunken. Daran muß ich immer denken, wenn ich Spinnen sehe: Die tun uns ja nichts. Und wir müssen sie ja normalerweise nicht in den Mund nehmen.“
Die Freundinnen waren beeindruckt und pamperten weiter.
Maiordomus
Unglaublich, dass Kinder, anstelle der Weltraumhelden von Internetspielen, noch Heilige auf eine Art und Weise identifizieren und von ihnen zu reden wissen, als ob es sich um Familienmitglieder handeln würde. Diese Erbschaft könnte möglicherweise noch nachhaltiger sein als die unvermeidlichen Konfrontationen mit dem politischen Ruf der Familie.
Am meisten beeindruckte mich bei dieser Geschichte der heilige Konrad, in gewissem Sinn auch Patron gegen die Arachnophobie. Für sein Naturverständnis war zum Beispiel der Rheinfall bei Neuhausen eine Wasserhölle, weswegen er mit seinem Genossen, dem heiligen Ulrich von Augsburg, zwei über der tosenden Gischt fliegende Reiher für abgeschiedene Seelen von Verstorbenen hielt, für die die beiden heiligen Bischöfe dann je eine Messe lasen. Die Reliquien des heiligen Konrad sind grossteils in einem kostbar gefassten Reliquiar im Kryptabereich des Konstanzer Münsters zur Verehrung ausgestellt, unweit der berühmten Mauritius-Rotunde, wo die Requisiten der Jakobspilger gesegnet wurden.
Bei der Spinnengeschichte geht es auch um eine Art Immunisierung gegen das Böse. Die Frage ist, ob dies einen Zusammenhang habe mit der oben erzählten Auschwitz-Geschichte. Auch dort liegt mutmasslich eine Art Immunisierungs-Prozess vor.