Der französische Schriftsteller und 2012 in die renommierte Bibliothèque de la Pléiade aufgenommene Pierre Drieu la Rochelle (1893–1945) überfordert bis heute viele schablonenorientierte Kritiker. Bourgeois und Antibourgeois, Nationalist und Internationalist, Antiklerikaler und Katholik, schließlich: Faschist und kurz vor seinem Suizid Stalin-Apologet. Drieu war derweil kein Verwirrter, und auch die Sprunghaftigkeit, die Thomas Laux in seinem leider etwas allzu zeitgeistigen Nachwort zum vorliegenden Band von Weltkriegserzählungen konstatiert, gilt nur auf den ersten Blick.
Drieu versuchte, Gegensätze zu vereinen, weltanschauliche Widersprüche dialektisch aufzuheben, politische Theorie fern der alten Pfade zu formulieren. In seiner politischen Hochphase zwischen 1934 und 1945 gibt es jenseits krisenbedingter Schwankungen Kontinuitätslinien, die auch im besagten Nachwort hätten extrahiert werden können. Es ist die Trias aus Europa, Sozialismus und Autoritarismus, die den roten Faden darstellt. Europa: als eine zu schaffende Eidgenossenschaft und als Gegenbild zum chauvinistischen Nationalismus jener Tage; Sozialismus: als Synthese aus einem nichtimperialistischen Faschismus und einem nichtmarxistischen Sozialismus (»Socialisme fasciste«); Autoritarismus: als die Bewunderung für den starken Staat, konkret für Mussolini, aber zumindest zeitweilig auch für Hitler und Stalin.
Grundlage dieser drei Pfeiler des Drieuschen Weltbildes war ein ganz und gar antibürgerlicher Esprit, der die Feindschaft zur Bourgeoisie als Ausbeuter- und Müßiggänger-Klasse (der er gewissermaßen selbst angehörte) ebenso beinhaltete wie ein feines Sensorium für soziale Antagonismen innerhalb der französischen Nation als Ganzem, aber auch innerhalb einzelner Milieus, etwa in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs.
Hier setzt die 1934 publizierte Textsammlung Komödie von Charleroi an, die nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt und fürwahr exzellent von Andrea Spingler und Eva Moldenhauer übersetzt wurde. Die titelgebende und an Umfang reichste Erzählung ist eine Verarbeitung des Fronterlebnisses eigener Art. Hier Kriegsbegeisterung und Frontromantik, wie etwa Martin van Creveld meinte, herauslesen zu können, fällt schwer. Auch eine Antikriegsagitation im Stile linker Pazifisten ist Drieus Sache nicht.
Mit der ihm eigenen, durchaus zynischen und nonchalanten Art zu schreiben nähert sich der Autor seinem Gegenstand, dem Schlachtfeld von Charleroi. Dort, im wallonischen Teil Belgiens, hatte sein Alter ego den Stellungskrieg gegen die Deutschen mitgemacht. Nun, Jahre später, besucht er als Sekretarius einer großbürgerlichen Pariser Dame die Frontverläufe und Soldatengräber. Hier liegt der Sohn der Pariserin begraben, der gemeinsam mit ihm an diesem Frontabschnitt kämpfte, und der in ihren Augen als Held für die Grande Nation gefallen ist. Drieu gelingt es nicht nur in dieser Erzählung, das Absurde des Ersten Weltkriegs und seiner Nachgeschichte im Frankreich der Zwischenkriegszeit zu erfassen.
Einerseits, weil er in Rückblenden die ganz und gar unspektakuläre Realität des Alltags im industriellen Krieg wiedergibt: objektiv sinnlose Befehle, zahlreiche Tote und Verletzte ohne Frontverschiebung, Unklarheit ob Kriegsziel und Kriegssinn, Aufschneider und Gernegroße sowie schließlich: soziale Hierarchien, die es Soldaten aus gutem Hause erlauben, sich von der Front »freizukaufen«, während einfache Poilus von den Salven der feindlichen MGsniedergemäht werden.
Andererseits gibt Drieu Einblicke in die Nachkriegsepoche. Er zeigt beispielsweise, wie die Bürger von Charleroi ehrfurchtsvoll vor der hochgemuten Pariser Aristokratin, die ihren Sohn für die Verteidigung Belgiens gab, in die Knie gehen; er präsentiert, wie verständnislos und tölpisch sie sich vor den Toten beider Seiten verhält, weil ihr jedes Einfühlungsvermögen in die prosaische Wirklichkeit des Krieges als solchem abgeht. Diesen machte Drieu im übrigen selbst mit; er wurde mehrfach von den Kugeln deutscher Soldaten verwundet, hegte aber zu keinem Zeitpunkt Groll auf die Kriegsfeinde.
Im Gegenteil: Schon sein dichterisches Debüt Interrogation (1917) widmete er explizit den Kämpfern auf der anderen Seite der Front, und auch die vorliegende Sammlung von Erzählungen atmet keinerlei nationalchauvinistischen Geist. Zu sehr war Drieu als idealistischer Europäer seiner Zeit voraus, und zu sehr stellte er das Gemeinsame über das Trennende, als daß er in die Denkbahnen der Action Française, seiner temporären geistigen Lehrer Charles Maur-ras und Maurice Barrès oder anderer reaktionärer Nationalisten zurückfallen hätte können. Als Autor, dessen Begehren es war, »linke Politik mit rechten Menschen« zu gestalten, steht er indes auch in der belletristischen Verarbeitung des Ersten Weltkriegs zwischen den Stühlen.
Pierre Drieu la Rochelles Die Komödie von Charleroi kann man hier bestellen.