Juli Zeh: Unterleuten. Roman

Juli Zeh: Unterleuten. Roman,  München: Luchterhand 2016. 640 S., 24.99 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Ach ja, Juli Zeh. Die ein­und­vier­zig­jäh­ri­ge Autorin gilt seit lan­gem als »enga­giert«, äußert sich gern poli­tisch (im Grun­de sozi­al­de­mo­kra­tisch, fall­wei­se pro »Pira­ten«, zuletzt zuguns­ten der mer­kel­schen Flücht­lings­po­li­tik) und ist pro­mo­vier­te Juris­tin. Ein Port­fo­lio, das nicht eben typisch ist für eine deut­sche Erfolgs­schrift­stel­le­rin. Dies ist ein Pro­fil eli­tä­ren Mit­tel­ma­ßes, mit gerun­de­ten Kan­ten: gegen Aus­späh­pra­xis, für»humane Wer­te«, so in etwa. Wie schlägt sich das lite­ra­risch nie­der? Erwart­bar? Nein: gar nicht. Juli Zehs Anspruch, mit Unter­leu­ten einen »gro­ßen Gesell­schafts­ro­man« vor­zu­le­gen – er dürf­te ein­ge­löst wor­den sein. So kön­nen lite­ra­ri­sches und »gesell­schaft­li­ches« Ich ein­an­der fremd­ge­hen! Unter­leu­ten (gra­phisch auf dem Buch­um­schlag: Unter Leu­ten) ist ein Kaff im Bran­den­bur­gi­schen. Alte DDR-Opfer leben hier Zaun an Zaun mit dama­li­gen Nutz­nie­ßern, hin­zu kom­men ein paar zuge­zo­ge­ne Städter.

Auch die Bon­ne­rin Zeh ist in der bran­den­bur­gi­schen Pro­vinz hei­misch gewor­den. Gro­ße Publi­kums­ver­la­ge ver­laut­ba­ren seit lan­gem, daß ein Groß­teil der »unver­langt ein­ge­sand­ten Manu­skrip­te« dem Roman­mus­ter »Land­ei gerät in den Groß­stadt­dschun­gel« fol­gen. Könn­te sein, daß die umge­kehr­te Migra­ti­ons­rich­tung ein höhe­res, weil abge­klär­te­res Refle­xi­ons­ni­veau beinhal­tet. Hier jeden­falls trifft die Ver­mu­tung zu. Zeh kennt ihre Pap­pen­hei­mer, durch­schaut nicht bloß Land­lust und ‑frust, son­dern hebt die (neo-)ländliche Sze­ne­rie auf die Stu­fe eines fein zise­lier­ten, her­vor­ra­gend beob­ach­te­ten gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Pan­op­ti­kums. Das heißt, nein, etwas fehlt: Es gibt in Unter­leu­ten kei­ne Migran­ten. Eine ande­re Art Ansied­lung steht bedroh­lich (wir schrei­ben 2010) ins Haus: Ein gigan­ti­scher Wind­park soll ent­ste­hen, Befehl von oben, Regie­rung, EU. Im Kern ist die Par­al­le­le zur oktroy­ier­ten Men­schen­mas­sen­an­sied­lung, wenn auch sicher nicht inten­diert, so doch bestechend: Fast kei­ner will sie, es gibt reich­lich Grün­de, sie abzu­leh­nen. Aber weil klar ist, daß sie kom­men, möch­te doch der eine oder ande­re sei­nen Pro­fit schla­gen aus dem Unabwendbaren.

Juli Zeh lie­fert mit ihren mes­ser­scharf pro­fi­lier­ten Pro­to­ty­pen kei­ne Kli­schee­bil­der, son­dern aus­dif­fe­ren­zier­te Indi­vi­du­al­por­träts. Etwa von Ger­hard Fließ, dem ner­vö­sen Vogel­wart, der zuguns­ten sei­ner viel jün­ge­ren Frau die Uni­kar­rie­re an den Nagel gehängt hat und nun in Unter­leu­ten als gut­mensch­li­cher Bes­ser­wis­ser durch­star­tet, im fata­len Irr­tum, mit elo­quen­ten schrift­li­chen Ein­ga­ben gäbe es ein Durch­kom­men vor Ort.

Pan­tof­fel­hel­den höchst unter­schied­li­cher Cou­leur sind reich­lich gesät in die­sem Roman, doch scheint Zeh hier kei­ner femi­nis­ti­schen Agen­da, son­dern erwor­be­ner Lebens­klug­heit zu fol­gen. Vor allem den Jar­gon ihrer eige­nen Leu­te kennt und beherrscht sie vor­treff­lich; den der stil­len­den Sor­gen­mut­ter, des abge­half­ter­ten Intel­lek­tu­el­len, der selbst­ge­mach­ten, sich dau­er­op­ti­mie­ren­den Power­frau, des effi­zi­en­ten Kar­rie­ris­ten und der läs­si­gen Start-up-Leu­te. Wol­fi, mäßig erfolg­rei­cher Thea­ter­schrift­stel­ler, hängt am Finanz­tropf sei­ner Frau Kath­rin, einer Medi­zi­ne­rin; der unge­lieb­te dörf­li­che Haupt­ar­beit­ge­ber Gom­brow­ski mit sei­ner Hunds­vi­sa­ge ver­sorgt gleich zwei Frau­en; Erz­kom­mu­nist Kron und das Pro­lo-Tier Schal­ler hän­gen abgöt­tisch an ihren Töch­tern; und dann wäre da noch Fre­de­rik, der elas­tisch-urba­ne Nichts­nutz und Com­pu­ter­spiel­ent­wick­ler, der sei­ner pfer­de­n­är­ri­schen Lin­da aufs Land gefolgt ist.

Lin­da Fran­zen nun ist eine beson­ders inter­es­san­te Figur. Sie hat es beson­ders faust­dick hin­ter den Ohren, sie folgt den Wei­sun­gen des Per­sön­lich­keits­trai­ners Man-fred Gortz (tol­ler Trick von Zeh, unbe­dingt goo­geln!). Lin­da, als Jung­un­ter­neh­me­rin und erfolg­rei­che Pfer­de­flüs­te­rin, hat ver­stan­den, was es heißt, die eige­ne Per­sön­lich­keit fort­lau­fend zu opti­mie­ren – ganz ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te. Sie ist der weib­li­che Phä­no­typ der Stun­de. Juli Zeh hat eine fei­ne psy­cho­lo­gi­sche Ader und ein siche­res Gefühl für die Zeit­läuf­te. Zum Smar­tie Pilz, dem ange­reis­ten Wind­kraft-Lob­by­is­ten, schreibt Zeh: »Einem wie Pilz ging es nicht mehr ums gute Leben, es ging nicht ein­mal um Geld. Was die­se Gene­ra­ti­on antrieb, war der unbe­ding­te Wunsch alles rich­tig zu machen. Kei­ne Feh­ler zu bege­hen und dadurch unan­greif­bar zu wer­den. Das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem pflanz­te einen Angst­kern in die See­len sei­ner Kin­der, die sich im Lau­fe ihres Lebens mit immer neu­en Schich­ten aus Leis­tungs­be­reit­schaft pan­zer­ten. Her­aus kamen Arbeits­zom­bies, die kei­ne Angst davor hat­ten, von einem Dorf­mob auf­ge­mischt zu werden.«

Denn fast alle Dorf­be­woh­ner sind natür­lich gegen Land­schafts­ver­schan­de­lung, krei­sen­de Rotor­blät­ter und Vogel­ster­ben. Aber die Front der Geg­ner brö­ckelt, alte Rech­nun­gen wer­den hervorgezerrt.

Her­aus kommt in sechs Tei­len, je viel­fach unter­glie­dert in Sicht­wei­sen (»Fließ«, »Gom­brow­ski«) ein so mul­ti­per­spek­ti­vi­sches Psy­cho­gramm, ein solch lebens­klu­ges Gesell­schafts­bild, daß man sich am Ende ziem­lich betrübt fragt: Woher die medio­kren Aus­sa­gen einer Juli Zeh in Talk­shows und ähn­li­chen For­ma­ten? Sie wird es schon wissen.

Juli Zehs Unter­leu­ten kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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