Die Sujets des 1957 geborenen Emmanuel Carrère weisen eine erstaunliche Bandbreite auf: Auf sein Konto gehen unter anderem Biographien von Philip K. Dick und Eduard Limonow, eine Studie über »Alternativweltgeschichten«, der »True Crime«-Roman Amok sowie die philosophisch angehauchte Gruselfernsehserie Les Revenants (Die Wiedergänger). Letztere handelte von der unerklärlichen Wiederkehr Verstorbener in einer französischen Kleinstadt: Die Toten sind weder Zombies noch Geister, sondern die Menschen geblieben, die sie waren.
Im »Prolog« zu Das Reich Gottes zieht Carrère eine direkte Verbindung von der Serie zu einem Kerndogma des Christentums, der leiblichen Auferstehung Christi, die Paulus zum Fundament des Glaubens erklärt hat: »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich.« Die Behauptung, ein Mensch könne realiter von den Toten auferstehen, ist auch nach 2000 Jahren »ein Ärgernis und eine Torheit«, die dennoch von Millionen geglaubt wird.
Auch Carrère selbst hat diesen Glauben eine Zeitlang geteilt. Im Jahre 1990, am Ausgang einer schweren Lebenskrise »von der Gnade berührt«, stürzte sich der Schriftsteller über einen Zeitraum von drei Jahren leidenschaftlich in den katholischen Glauben: »Während dieser Zeit ließ ich mich kirchlich trauen, ließ meine beiden Söhne taufen und ging regelmäßig in die Messe – und ›regelmäßig‹ hieß nicht jede Woche, sondern jeden Tag.« Über zwei Jahrzehnte später nähert er sich seinem früheren Selbst und dessen bekenntnishaften Aufzeichnungen wie einem fremdgewordenen Menschen, wobei ihm insbesondere seine täglichen Kommentare zum Johannes-Evangelium peinlich geworden sind.
Sein Eifer erscheint ihm im Rückblick als eine Art von Selbsthypnose, deren inneres Gefüge er rekonstruieren muß. Kann er durch die Analyse seiner eigenen Erfahrung den Schlüssel zum Glauben der allerersten Christen finden? Erneut schlägt er das Neue Testament auf und gerät ein weiteres Mal in seinen Bann, diesmal allerdings aus gänzlich anderen Gründen. Was ihn diesmal fesselt, ist vor allem das Geheimnis seiner Autorschaft und der Motive seiner Verfasser. Dabei dient ihm der Evangelist Lukas als eine Art Alter ego, als Schriftstellerkollege, der eine Recherche unter den Zeitzeugen des Wirkens Christi durchführt und beginnt, seine literarische Vorlage, das rohe Evangelium des Markus, zu erweitern, zu verbessern, zu korrigieren und zu übermalen.
Carrère scheint fasziniert von der Idee, man könne den Ursprung dieser Schriften, die zwei Jahrtausende prägen sollten – den Augenblick selbst, in dem der Griffel das Pergament berührt – zumindest in der Vorstellungskraft ergreifen: »Mit dem Brettchen auf den Knien setzt sich Timotheus im Schneidersitz zu Paulus’ Füßen, und wenn es ein Bild von Caravaggio ist, sind diese Füße dreckig. Der Apostel läßt sein Weberschiffchen ruhen. Er hebt den Blick zum Himmel und beginnt zu diktieren. An dieser Stelle beginnt das Neue Testament«.
Paulus, ein weiterer Schriftstellerkollege, wird neben Lukas und Carrère selbst zur dritten emphatisch betrachteten Hauptfigur von Das Reich Gottes,einem eigenwilligen Hybrid zwischen Autobiographie, Romanskizze und Einführung in die Fragen der »historisch-kritischen« Methode. Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, daß das Neue Testament voller Widersprüche, Lücken und zum Teil merkwürdig anmutenden Stellen ist, wobei Abschreib‑, Übersetzungs- oder Überlieferungsfehler eine Rolle gespielt haben mögen; gleichzeitig kann sich auch Carrère dem Eindruck nicht entziehen, daß in den Worten Jesu eine einzigartige, authentische Stimme erklingt.
Er konzentriert sich in seiner Darstellung jedoch auf die Paulus-Briefe und die Apostelgeschichte, die ebenfalls von Lukas verfaßt worden sein soll. Der »historische« Christus bleibt eher in einem undurchsichtigen Hintergrund, ebenso entrückt, wie er es wohl bereits für Lukas war. Der Agnostiker Carrère kommt wie viele Autoren zu dem Schluß: »Etwas« ist passiert nach dem Tod Jesu, aber was, bleibt ewig Gegenstand der Spekulation oder des Glaubens. Die Imagination des Drehbuchautors wird dabei zu einer Art Brücke zwischen beiden. Phantasievoll haucht Carrère seinem Paulus, Lukas und den zahllosen Nebenfiguren plastisches Leben ein, bis hin zu dem verführerischen, aber trügerischen Eindruck der schlüssigen Rekonstruktion: So könnte es gewesen sein. Entwaffnend ist dabei die exhibitionistische Offenheit, mit der Carrère noch die feinsten Verästelungen des Fühlens und Denkens seines dritten »Helden«, sich selbst, darstellt, wobei er sich mitunter ein wenig im Ton vergreift oder dem Leser allzu intime Dinge mitteilt. Dieses Hinabtauchen ist allerdings notwendig, um die komplizierten Wege zu zeigen, auf denen der Glaube und die Szenen, Bilder, Sätze des Neuen Testaments in der Seele eines Menschen zu wirken beginnen.
Auch nach 500 Seiten hat Emmanuel Carrère sein Thema nicht erschöpft, und er lädt den Leser zu weiteren Umkreisungen auf eigene Faust und eigene Gefahr ein.
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