Christoph Türcke: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet,

Christoph Türcke: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, München: C.H. Beck 2016. 159 S., 14.95 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Ein ulki­ger Titel, eine ekla­tant irre­füh­ren­de Cover­ge­stal­tung! Wer dem­ge­mäß hier ein fall­bei­spiel­be­stück­tes Kom­pen­di­um samt Zehn-Punk­te-Plan, »wie es bes­ser lau­fen könn­te«, erwar­tet: Nicht mit die­sem Buch! Trost: Es ist viel bes­ser. Chris­toph Tür­cke, der seit Jahr­zehn­ten als »Umstrit­te­ner« gilt, erweist sich in die­sem klug unter­glie­der­ten (etwa: »Ein­heits­druck«, »Aus­gren­zung«, »Abitur­s­in­fla­ti­on«) Lang­es­say als hoch­ge­bil­de­ter, eben­so scharf­sin­ni­ger wie ‑zün­gi­ger Autor. Bis 2014 war Tür­cke, Jahr­gang 1948, Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor an der Hoch­schu­le für Gestal­tung und Buch­kunst in Leipzig.

Hier räumt er in schöns­ter Spra­che (heißt: gedan­ken- und bil­der­reich, elo­quent, dabei nie ver­quast und kei­nen Ideo­lo­ge­men ver­pflich­tet) mit den zwei Grund­irr­we­gen der neu­en Päd­ago­gik auf, die kaum öffent­lich aufs Tapet kamen: dem Inklu­si­ons- und dem Kom­pe­tenz­wahn. Tür­cke bezieht sich dabei sel­ten auf die kon­kre­ten Bil­dungs­plä­ne (wohl aber pole­misch auf die päd­ago­gi­schen Kna­ben­blü­ten­träu­me eines Richard David Precht), er schöpft aus 2500 Jah­ren Geis­tes­ge­schich­te und hält deren Erkennt­nis­se jenem Mega­trend ent­ge­gen, den er als »neo­li­be­ra­lis­tisch« auffaßt.

Das schma­le Büch­lein ist dabei so dicht, daß man nach der Lek­tü­re gemes­sen am Erkennt­nis­ge­winn das Gefühl hat, min­des­tens ein Vier­fa­ches absol­viert zu haben. Der mega­fle­xi­ble Neo­li­be­ra­lis­mus, so Tür­ckes Grund­the­se, hat in den letz­ten Jah­ren nichts weni­ger als eine päd­ago­gi­sche Revo­lu­ti­on geschaf­fen: indem er Homo sapi­ens in einen Homo com­pe­tens umde­fi­nier­te. Wer mag, schaue sich ein­mal die töner­nen »Lehr­plä­ne« sei­nes jewei­li­gen Bun­des­lan­des an: Es wer­den »Schlüs­sel­kom­pe­ten­zen« defi­niert, es geht (immer höchst abs­trakt) um »kom­pe­tenz­ori­en­tier­te Unter­richts­ge­stal­tung«, um »kom­pe­tenz­ori­en­tier­te Leis­tungs­be­wer­tung« – die ollen »Wis­sen­be­stän­de« zäh­len unter fer­ner lie­fen. »Hohe sozia­le Kom­pe­tenz« (Precht) ist das gum­mi­ar­ti­ge Maß aller Din­ge, wäh­rend alle Sach- und Fach­kom­pe­ten­zen nur so weit zäh­len, wie sie dem Para­dig­ma des gemo­ni­tor­ten Schü­ler­coa­chings zuträg­lich sind.

Als Zuga­be wur­de dem »kom­pe­ten­ten« Schü­ler, par­don: Indi­vi­du­um (das über eini­ge Soft skillsver­fügt, Wis­sen im Inter­net nach­schla­gen kann, sich vor allem modi­schen Erfor­der­nis­sen geschmei­dig und hal­tungs­los anpas­sen kann) ein wei­te­res Zau­ber­wort »von ganz oben« oktroy­iert: die Inklu­si­on. Sprich: Alle Schü­ler »mit ihrer Viel­falt an Kom­pe­ten­zen und Niveaus« wer­den in einer Lern­grup­pe will­kom­men gehei­ßen. Tür­cke: »Als ent­stün­den die Defi­zi­te und Beschä­di­gun­gen der Schwa­chen erst dadurch, daß man sie als sol­che wahr­nimmt und bezeich­net.« Mes­ser­scharf wen­det sich Tür­cke gegen den so modi­schen wie wohl­fei­len Aus­gren­zungs­dis­kurs, den via »Behin­der­ten­kon­ven­ti­on« eine Aura umwe­he, »als sei er die vom Geist des neu­en Welt­credo inspi­rier­te hei­li­ge Schrift«.

Stem­men läßt sich solch ideo­lo­gi­scher Irr­sinn nicht durch den alten Typus des Leh­rers, der gemäß Tür­ckes Hin­füh­rung wesent­lich ein »Zei­ger« sein soll­te, son­dern durch mobi­le Lern­teams und ‑labo­re, die punk­tu­ell als Repa­ra­tur­be­trieb fun­gie­ren – und dies not­wen­dig mehr schlecht als recht tun. Tür­cke warnt ein­dring­lich davor, den von ihm geschätz­ten Unter­richt durch einen im bes­ten Fall cha­ris­ma­ti­schen und zuge­neig­ten Leh­rer mit stu­pi­dem Aus­wen­dig­lern­be­trieb und »Gleich­schritt« zu ver­wech­seln. Dies sei­en unge­rech­te und unge­recht­fer­tig­te Zuwei­sun­gen, genau wie die dem­ago­gi­sche Gegen­über­stel­lung von »trä­gem Wis­sen« ver­sus »leben­di­ger Unter­richts­kul­tur«, im Rah­men derer Zehn­jäh­ri­ge dann als »ver­ant­wor­tungs­be­wuß­te Recht­schreib­stra­te­gen« fun­gie­ren. Tür­cke preist das (hand­schrift­li­che) Schrei­ben als »Ges­te der Hin­ga­be«, das Repro­duk­ti­ve als Ein­übung des Produktiven.

Wer sei­nen Kin­dern ein­re­de, jedes Aus­wen­dig­ler­nen sei per se stumpf, betrü­ge sie um ein »Medi­um der men­ta­len Ent­fal­tung«. Sei es nicht aber­wit­zig, Bach einen Krea­ti­vi­täts­man­gel vor­zu­wer­fen, weil er sich Vor­ga­ben (Kan­ta­ten­form, Fugen­sche­ma) unter­wor­fen habe, statt sei­ne Musi­ka­li­tät frei her­vor­quel­len zu las­sen? Eltern, Leh­rer, Lehr­amts­stu­den­ten, Refe­ren­da­re: Tür­cke lesen!

Leh­rer­däm­me­rung von Chris­toph Tür­ke kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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