Ein ulkiger Titel, eine eklatant irreführende Covergestaltung! Wer demgemäß hier ein fallbeispielbestücktes Kompendium samt Zehn-Punkte-Plan, »wie es besser laufen könnte«, erwartet: Nicht mit diesem Buch! Trost: Es ist viel besser. Christoph Türcke, der seit Jahrzehnten als »Umstrittener« gilt, erweist sich in diesem klug untergliederten (etwa: »Einheitsdruck«, »Ausgrenzung«, »Abitursinflation«) Langessay als hochgebildeter, ebenso scharfsinniger wie ‑züngiger Autor. Bis 2014 war Türcke, Jahrgang 1948, Philosophieprofessor an der Hochschule für Gestaltung und Buchkunst in Leipzig.
Hier räumt er in schönster Sprache (heißt: gedanken- und bilderreich, eloquent, dabei nie verquast und keinen Ideologemen verpflichtet) mit den zwei Grundirrwegen der neuen Pädagogik auf, die kaum öffentlich aufs Tapet kamen: dem Inklusions- und dem Kompetenzwahn. Türcke bezieht sich dabei selten auf die konkreten Bildungspläne (wohl aber polemisch auf die pädagogischen Knabenblütenträume eines Richard David Precht), er schöpft aus 2500 Jahren Geistesgeschichte und hält deren Erkenntnisse jenem Megatrend entgegen, den er als »neoliberalistisch« auffaßt.
Das schmale Büchlein ist dabei so dicht, daß man nach der Lektüre gemessen am Erkenntnisgewinn das Gefühl hat, mindestens ein Vierfaches absolviert zu haben. Der megaflexible Neoliberalismus, so Türckes Grundthese, hat in den letzten Jahren nichts weniger als eine pädagogische Revolution geschaffen: indem er Homo sapiens in einen Homo competens umdefinierte. Wer mag, schaue sich einmal die tönernen »Lehrpläne« seines jeweiligen Bundeslandes an: Es werden »Schlüsselkompetenzen« definiert, es geht (immer höchst abstrakt) um »kompetenzorientierte Unterrichtsgestaltung«, um »kompetenzorientierte Leistungsbewertung« – die ollen »Wissenbestände« zählen unter ferner liefen. »Hohe soziale Kompetenz« (Precht) ist das gummiartige Maß aller Dinge, während alle Sach- und Fachkompetenzen nur so weit zählen, wie sie dem Paradigma des gemonitorten Schülercoachings zuträglich sind.
Als Zugabe wurde dem »kompetenten« Schüler, pardon: Individuum (das über einige Soft skillsverfügt, Wissen im Internet nachschlagen kann, sich vor allem modischen Erfordernissen geschmeidig und haltungslos anpassen kann) ein weiteres Zauberwort »von ganz oben« oktroyiert: die Inklusion. Sprich: Alle Schüler »mit ihrer Vielfalt an Kompetenzen und Niveaus« werden in einer Lerngruppe willkommen geheißen. Türcke: »Als entstünden die Defizite und Beschädigungen der Schwachen erst dadurch, daß man sie als solche wahrnimmt und bezeichnet.« Messerscharf wendet sich Türcke gegen den so modischen wie wohlfeilen Ausgrenzungsdiskurs, den via »Behindertenkonvention« eine Aura umwehe, »als sei er die vom Geist des neuen Weltcredo inspirierte heilige Schrift«.
Stemmen läßt sich solch ideologischer Irrsinn nicht durch den alten Typus des Lehrers, der gemäß Türckes Hinführung wesentlich ein »Zeiger« sein sollte, sondern durch mobile Lernteams und ‑labore, die punktuell als Reparaturbetrieb fungieren – und dies notwendig mehr schlecht als recht tun. Türcke warnt eindringlich davor, den von ihm geschätzten Unterricht durch einen im besten Fall charismatischen und zugeneigten Lehrer mit stupidem Auswendiglernbetrieb und »Gleichschritt« zu verwechseln. Dies seien ungerechte und ungerechtfertigte Zuweisungen, genau wie die demagogische Gegenüberstellung von »trägem Wissen« versus »lebendiger Unterrichtskultur«, im Rahmen derer Zehnjährige dann als »verantwortungsbewußte Rechtschreibstrategen« fungieren. Türcke preist das (handschriftliche) Schreiben als »Geste der Hingabe«, das Reproduktive als Einübung des Produktiven.
Wer seinen Kindern einrede, jedes Auswendiglernen sei per se stumpf, betrüge sie um ein »Medium der mentalen Entfaltung«. Sei es nicht aberwitzig, Bach einen Kreativitätsmangel vorzuwerfen, weil er sich Vorgaben (Kantatenform, Fugenschema) unterworfen habe, statt seine Musikalität frei hervorquellen zu lassen? Eltern, Lehrer, Lehramtsstudenten, Referendare: Türcke lesen!
Lehrerdämmerung von Christoph Türke kann man hier bestellen.