Mario Keßler: Grenzgänger des Kommunismus

Mario Keßler: Grenzgänger des Kommunismus. Zwölf Porträts aus dem Jahrhundert der Katastrophen, Berlin: Karl Dietz 2016. 285 S., 19.90 €

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Das »kur­ze 20. Jahr­hun­dert“ (Iván T. Ber­end) war das Zeit­al­ter der radi­ka­len welt­an­schau­li­chen Ent­wür­fe. Zahl­rei­che Intel­lek­tu­el­le beweg­ten sich im Umfeld auto­ri­tä­rer und tota­li­tä­rer Bewe­gun­gen: Sie woll­ten prä­gen und beein­flus­sen, len­ken und kor­ri­gie­ren. Joa­chim Fest beschrieb den mit­un­ter schmerz­haf­ten Ent­wick­lungs­pro­zeß sol­cher Intel­lek­tu­el­ler als eine »Geschich­te der Täu­schun­gen und Ent­täu­schun­gen«; ein Ver­lauf, der in die­ser Dia­lek­tik aus Hoff­nung und Ver­zweif­lung am eige­nen ideo­lo­gi­schen Milieu bei Kom­mu­nis­ten wie auch bei Faschis­ten oder Natio­nal­so­zia­lis­ten zu dia­gnos­ti­zie­ren ist. Dabei gilt für alle Sei­ten: Die Grenz­gän­ger eines Spek­trums sind span­nen­der als die Strom­li­ni­en­för­mi­gen. So, wie im Faschis­mus die Lebens­wer­ke dis­si­den­ter Träu­mer vom Typus eines Pierre Drieu la Rochel­le oder eines Ber­to Ric­ci mehr Reiz auf­wei­sen als die der strikt Par­tei­gläu­bi­gen, so, wie im Natio­nal­so­zia­lis­mus nichts Gehalt­vol­les inner­halb der Füh­rungs-cli­que, sehr wohl aber an den bewe­gungs­op­po­si­tio­nel­len Rän­dern um die »Schwar­ze Front« erdacht wur­de, so ist auch im Kom­mu­nis­mus des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts die Gestalt des Grenz­gän­gers heu­te noch auf­schluß­rei­cher und anzie­hen­der als die des Dogmengelenkten.

Mit Mario Keß­ler hat nun ein His­to­ri­ker mit bereits in zahl­rei­chen Stu­di­en erwie­se­nem Wis­sens­fun­dus über lin­ke Intel­lek­tu­el­le eine Text­samm­lung vor­ge­legt, die zwölf Por­träts kom­mu­nis­ti­scher Grenz­gän­ger beinhal­tet. Grenz­gän­ger ist vor allem eine Abgren­zung: einer­seits zum »Rene­ga­ten«, dem eifern­den Ex-Kom­mu­nis­ten, und ande­rer­seits zum »Ket­zer«, der zwar ande­rer Mei­nung als die Füh­rung der jewei­li­gen kom­mu­nis­ti­schen Par­tei ist, sich ihr aber am Ende unter­ord­net. Der kom­mu­nis­ti­sche Grenz­gän­ger hin­ge­gen kann sich ein Leben ohne Par­tei vor­stel­len – sei­ne Treue gilt der Idee, kei­ner Insti­tu­ti­on oder Person.

Ins­be­son­de­re die Unter­schei­dung Renegat/Ketzer geht auf den Geschichts­schrei­ber der Rus­si­schen Revo­lu­ti­on und ihrer Köp­fe Isaac Deut­scher zurück, der selbst zu den Por­trä­tier­ten zählt. Es ist dies die – nach Ansicht des Rezen­sen­ten – inter­es­san­tes­te Ein­zel­stu­die im vor­lie­gen­den Band. Deut­scher wird gezeich­net als ein akri­bisch arbei­ten­der His­to­ri­ker, der für sei­ne Sta­lin-Bio­gra­phie gera­de­zu von Sta­li­nis­ten als Trotz­kist, von Trotz­kis­ten als Sta­li­nist bezeich­net wur­de (das­sel­be Spiel unter umge­kehr­ten Vor­zei­chen gilt für sei­ne mehr­bän­di­ge Trotz­ki-Bio­gra­phie) und »zwi­schen den Stüh­len« ein intel­lek­tu­ell red­li­ches For­scher­le­ben führte.

Aus rech­ter Sicht sind sicher­lich beson­ders Alfred Kan­to­ro­wicz und Ruth Fischer von Inter­es­se. Kan­to­ro­wicz war vor sei­nem Bei­tritt zur KPDim Umfeld der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on aktiv, publi­zier­te in Hans Zeh­rers Tat und ver­lor die »deut­sche Fra­ge« weder vor noch nach sei­nem erzwun­ge­nen Exil – er war wie das Gros der Por­trä­tier­ten jüdisch­stäm­mig – aus dem Auge.

Ruth Fischer hin­ge­gen sprach 1923 wäh­rend der Ruhr­be­set­zung vor Kom­mu­nis­ten wie Natio­na­lis­ten und woll­te letz­te­ren die Not­wen­dig­keit eines fun­dier­ten Anti­ka­pi­ta­lis­mus inji­zie­ren, der mehr sein müs­se als blo­ßes Res­sen­ti­ment gegen­über jüdi­schen Unter­neh­mern bei Dul­dung der »eige­nen« Kapi­ta­lis­ten­klas­se. In meh­re­ren Reichs­tags­re­den appel­lier­te sie indes an die natio­na­len Gefüh­le der Arbei­ter­klas­se. Nach Wei­mar blieb sie eine zeit­le­bens Suchen­de zwi­schen den Polen Kom­mu­nis­mus und Anti­kom­mu­nis­mus; sie durch­leb­te meh­re­re welt­an­schau­li­che Wenden.

Die­se zeit­wei­li­gen Grenz­gän­ger nach rechts sind jedoch die Aus­nah­me: Über­wie­gend sind die Por­trä­tier­ten undog­ma­ti­sche Sozia­lis­ten und Kom­mu­nis­ten, die auf­grund eigen­stän­di­ger welt­an­schau­li­cher Wege in Kon­flikt mit der jewei­li­genKP-Füh­rung gerie­ten. Ob Karl Korsch, Arthur Rosen­berg, Arka­di Maslow, Ossip Flecht­heim, Susan­ne Leon­hard, Wal­ter Grab oder Ste­fan Heym – sie alle such­ten nach Alter­na­ti­ven im Kom­mu­nis­mus. »Es gibt kein rich­ti­ges Leben im fal­schen«, möch­te man den idea­lis­ti­schen Mate­ria­lis­ten hin­ter­her­ru­fen, ihnen, die selbst nach erlit­te­ner Ver­fol­gung und Fol­ter fest an der kom­mu­nis­ti­schen Idee fest­hiel­ten. Mario Keß­ler stellt zwar unter Beweis, daß sei­ne publi­zis­ti­sche Vor­lie­be für vom Kom­mu­nis­mus ver­fem­te Kom­mu­nis­ten wei­ter­hin ertrag­reich ist, muß sich selbst aber die Fra­ge gefal­len las­sen, ob ihm tat­säch­lich an der Frei­heit des (gedruck­ten) Wor­tes gele­gen ist – oder nur dann, wenn die­se inner­halb des eige­nen lin­ken Soli­dar-Milieus in Gefahr ist. Denn Keß­ler zähl­te zu jenem toben­den Per­so­nen­kreis, der die Publi­ka­ti­on der deutsch­spra­chi­gen Edi­ti­on der Trotz­ki-Bio­gra­phie von Robert Ser­vice (Ber­lin 2012) aus ideo­lo­gi­schen Grün­den ver­hin­dern wollte.

Grenz­gän­ger des Kom­mu­nis­mus. Zwölf Porträts aus dem Jahr­hun­dert der Kata­stro­phen von Mario Keß­ler kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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