Köhlmeier ist gleichen Alters wie Boyle und ähnlich prominent. 10000 km trennen die beiden Schriftsteller voneinander. Köhlmeier schreibt wie ein Besessener, mehrere Bücher pro Jahr. Klar, daß nicht jedes eine furiose Meisterleistung wie sein Joel Spazierer ( Sezession 62 /2014) sein kann.
Das kleine Mädchen mit dem Fingerhut nun ist, zwar märchenhaft gefaßt und nie dezidiert so benannt, in Wahrheit ein »minderjähriger unbegleiteter Flüchtling« (MuFl), wie sie derzeit zu Zigtausenden durch deutsche Lande treiben. Mit zwei größeren MuFl-Jungs ist sie aus dem Kinderheim ausgerissen. Sie irren durch Städte und Wälder, frierend, hungernd, sich dem nur halbherzigen staatlichen Zugriff vehement entziehend, aber keineswegs ziellos: Irgendwo soll da ein Haus stehen, deren reiche Eigentümer im Süden überwintern. Da könnte man sich es gutgehen lassen: die Speisekammer plündern, gammeln, zocken!
Bald verblaßt auch dieser dumme Traum, die Kinder verlieren sich. Das arme, süße Mädchen hat es qua Alter und Geschlecht leichter als seine beiden wortkargen Kumpanen: In der heranwachsenden Virilität, den dunkeln, buschigen Augenbrauen der Knaben wird selbst für mitleidige Autochthone (ja, man gibt gern Almosen!) eine stille, düstere Gefahr fühlbar. Sie sind »bereits zu alt für Mitleid und Rührung«. Eine Frau nimmt sich der krank gewordenen, im winterlichen Gewächshaus aufgefundenen Kleinen an: »Mein armes Kind, sagte die Frau, gut, daß du zu mir gekommen bist.« Das Mädchen darf baden, essen, lernen: »Sag Oma zu mir. Das ist leichter als Renate. Oma. Sag Oma.« Oma Renate hat nun einen Schatz.
Und wie sie den hütet! Über Monate bleibt die Zimmertür verschlossen, das niedliche Objekt wird gehegt und gepflegt. Doch der Schatz glänzt nur durch das gestärkte Hemdchen und die Perlmuttknöpfe, nach innen ist er stumpf. Dieses Mädchen und seine Freunde sind Seelenbrüder der Zwillinge aus Ágota Kristófs Das große Heft oder der kindförmigen Krieger aus dem Film Die Frau, die singt (2010): Kinder, die nie spielen, die rauh sind und roh, die nur eines wollen: durchhalten. Solche Kinder gleichen jenen Muscheln, die gelegentlich an den Strand geschwemmt werden, fest verschlossen, kaum zu öffnen.
Gelingt die Öffnung, sieh da: Das Innere ist faul und stinkt bereits. Oma Renate kann es nicht abwenden, und ihren egomanen Traum nach einem duftenden Schätzchen als Kindersatz muß sie bitter bezahlen. Am Ende liegt sie leblos »über der Schwelle wie ein langer flacher grauer Hügel«. Und das Mädchen? Ist wieder unter Seinesgleichen. »Noch sind die Nägelchen weiß und rosa und sauber abgezwickt und rund gefeilt.« Michael Köhlmeier hat uns eine in mehrfacher Hinsicht merkwürdige Geschichte erzählt.
Michael Köhlmeiers Das Mädchen mit dem Fingerhut kann man hier bestellen.