Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Roman, München: Hanser 2016. 140 S., 18.90 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Köhl­mei­er ist glei­chen Alters wie Boyle und ähn­lich pro­mi­nent. 10000 km tren­nen die bei­den Schrift­stel­ler von­ein­an­der. Köhl­mei­er schreibt wie ein Beses­se­ner, meh­re­re Bücher pro Jahr. Klar, daß nicht jedes eine furio­se Meis­ter­leis­tung wie sein Joel Spa­zie­rer Sezes­si­on 62 /2014) sein kann.

Das klei­ne Mäd­chen mit dem Fin­ger­hut nun ist, zwar mär­chen­haft gefaßt und nie dezi­diert so benannt, in Wahr­heit ein »min­der­jäh­ri­ger unbe­glei­te­ter Flücht­ling« (MuFl), wie sie der­zeit zu Zig­tau­sen­den durch deut­sche Lan­de trei­ben. Mit zwei grö­ße­ren MuFl-Jungs ist sie aus dem Kin­der­heim aus­ge­ris­sen. Sie irren durch Städ­te und Wäl­der, frie­rend, hun­gernd, sich dem nur halb­her­zi­gen staat­li­chen Zugriff vehe­ment ent­zie­hend, aber kei­nes­wegs ziel­los: Irgend­wo soll da ein Haus ste­hen, deren rei­che Eigen­tü­mer im Süden über­win­tern. Da könn­te man sich es gut­ge­hen las­sen: die Spei­se­kam­mer plün­dern, gam­meln, zocken!

Bald ver­blaßt auch die­ser dum­me Traum, die Kin­der ver­lie­ren sich. Das arme, süße Mäd­chen hat es qua Alter und Geschlecht leich­ter als sei­ne bei­den wort­kar­gen Kum­pa­nen: In der her­an­wach­sen­den Viri­li­tät, den dun­keln, buschi­gen Augen­brau­en der Kna­ben wird selbst für mit­lei­di­ge Auto­chtho­ne (ja, man gibt gern Almo­sen!) eine stil­le, düs­te­re Gefahr fühl­bar. Sie sind »bereits zu alt für Mit­leid und Rüh­rung«. Eine Frau nimmt sich der krank gewor­de­nen, im win­ter­li­chen Gewächs­haus auf­ge­fun­de­nen Klei­nen an: »Mein armes Kind, sag­te die Frau, gut, daß du zu mir gekom­men bist.« Das Mäd­chen darf baden, essen, ler­nen: »Sag Oma zu mir. Das ist leich­ter als Rena­te. Oma. Sag Oma.« Oma Rena­te hat nun einen Schatz.

Und wie sie den hütet! Über Mona­te bleibt die Zim­mer­tür ver­schlos­sen, das nied­li­che Objekt wird gehegt und gepflegt. Doch der Schatz glänzt nur durch das gestärk­te Hemd­chen und die Perl­mutt­knöp­fe, nach innen ist er stumpf. Die­ses Mäd­chen und sei­ne Freun­de sind See­len­brü­der der Zwil­lin­ge aus Ágo­ta Kris­tófs Das gro­ße Heft oder der kind­för­mi­gen Krie­ger aus dem Film Die Frau, die singt (2010): Kin­der, die nie spie­len, die rauh sind und roh, die nur eines wol­len: durch­hal­ten. Sol­che Kin­der glei­chen jenen Muscheln, die gele­gent­lich an den Strand geschwemmt wer­den, fest ver­schlos­sen, kaum zu öffnen.

Gelingt die Öff­nung, sieh da: Das Inne­re ist faul und stinkt bereits. Oma Rena­te kann es nicht abwen­den, und ihren ego­ma­nen Traum nach einem duf­ten­den Schätz­chen als Kindersatz muß sie bit­ter bezah­len. Am Ende liegt sie leb­los »über der Schwel­le wie ein lan­ger fla­cher grau­er Hügel«. Und das Mäd­chen? Ist wie­der unter Sei­nes­glei­chen. »Noch sind die Nägel­chen weiß und rosa und sau­ber abge­zwickt und rund gefeilt.« Micha­el Köhl­mei­er hat uns eine in mehr­fa­cher Hin­sicht merk­wür­di­ge Geschich­te erzählt.

Micha­el Köhl­mei­ers Das Mäd­chen mit dem Fin­ger­hut kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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