Ein authentischer Anführer ist in der Lage, seine Gefolgschaft dazu zu bringen, Unterordnung als Akt der Freiheit zu begreifen. Als eine solche Führungsgestalt wurde im bundesdeutschen Neo-Nationalsozialismus Michael Kühnen wahrgenommen. Auch 25 Jahre nach seinem Tod gibt es Strömungen, in denen der Mythos fortlebt. Dabei wissen wenige Näheres über Leben und Schaffen des selbsterklärten »revolutionären Nationalsozialisten«. Es ist verdienstvoll von Werner Bräuninger, einem Kenner der NS-Geschichte und ihrer Widersprüche, ein Porträt vorgelegt zu haben.
Kühnen wurde 1955 in Bonn-Beuel geboren, besuchte das »Collegium Josephinum« und ging nach dem Abitur zur Bundeswehr nach Hamburg. Dort lernte er Wolf-Dieter Eckart kennen, einen Hardliner, der »Hitlerglauben als Religion« begriff. Von ihm übernahm Kühnen den Fetisch, »J. d. F.« (Jahr des Führers) in Schriftdokumenten zu verwenden, um zu signalisieren, daß mit dem Geburtsjahr Hitlers eine neue Zeitrechnung begonnen habe. Kühnen wirkte fortan als Streiter für eine Wiederzulassung der NSDAPund wurde aus der Bundeswehr ausgestoßen. Die gewonnene Zeit nutzte er, um verschiedene Gruppen zu gründen. Kühnens Wirken war gekennzeichnet durch Drang nach Aktion und Selbstdarstellung; stetige Medienpräsenz war das Ziel. Dies gelang zu dem Preis zahlloser Festnahmen und einer Haftzeit, die er etwa zur Niederschrift seines Pamphlets Die zweite Revolutionnutzte.
Über die organisatorischen Versuche Kühnens, seine Propagandafahrten und die internen Zerwürfnisse innerhalb der damals maximal tausend Aktivisten umfassenden NS-Szene erfährt man viel. Auch über Kühnens Tod infolge seiner AIDS-Erkrankung im Jahre 1991 trägt der Autor bis dato Unbekanntes zusammen. Ohne-hin hat Bräuninger in einer Fleißarbeit zahlreiche Gespräche mit Freund und Feind aus Kühnens kurzem Leben geführt, um die Biographie mit den Mitteln eineroral history verorten zu können. Auch zum Themenkomplex Homosexualität wird ausgiebig geschrieben.
Kühnen erscheint bei Bräuninger als Ästhet, dessen Homosexualität altgriechisch fundiert sei. Bräuninger beschreibt, wie Kühnen die »Knabenliebe« in seinem temporären Pariser Exil mit einem Strichjungen praktizierte und schildert Kühnens pseudonyme Mitarbeit am vulgären pädo- und homosexuellen Organ Gaie France. Die größte Liebe Kühnens sei übrigens ein thailändischer Knabe gewesen, für den er eine Aufenthaltsgenehmigung zu erstreiten versuchte, während zeitgleich seine Gefolgsleute die hessische Stadt Langen »ausländerfrei« machen wollten.
Wie paßt das zum ethischen Ausweg eines antiken, gleichgeschlechtlichen Eros? Relativierungen dieser Art sind nicht das einzige störende Element in Bräuningers Werk, das durchzogen ist von unpassenden Vergleichen: Eine ausgeartete Hitlergeburtstagsfeier 1983 wird verglichen mit literarischen Abenden bei Ernst Jünger in den Zwanzigern, Aussagen Kühnens mit Aussagen Jüngers oder Rolf Schillings, Kühnens in Phantasieuniformen ummantelter Aktionismus mit Henry de Montherlants Nutzlosem Dienen, Kühnens HIV-Infizierung mit Ulrich von Huttens Syphilis, Kühnens Tod mit demjenigen Bismarcks, das Todesalter Kühnens mit einer Bemerkung Gottfried Benns, und dann auch noch Kühnen mit Dutschke.
Übertroffen wird dieses Kuriositätenkabinett durch Dutzende Analogien zu Hitlers Lebensweg. Diese Gleichnisse verraten mehr über Bräuningers Forschungsinteressen als über Kühnens Lebenswerk, zu dem der Autor auch richtige Gedanken formuliert.
Die Biographie räumt mit der Vorstellung Kühnens als »linkem Nationalsozialisten« auf. Richtig ist vielmehr, daß Kühnen weder Schriften von Otto noch von Gregor Strasser kannte, geschweige denn von Herbert Blank oder Richard Schapke. Es überrascht kaum, daß Kühnens Inhalte der 1980er Jahre unendlich weit hinter dem Erkenntnisstand blieben, den die Genannten bereits 50 Jahre vorher formulierten.
Kühnen erdachte eben keinen Nationalsozialismus »nach Hitler«, sondern agitierte für eine Karikatur desselbigen unter bundesdeutschen Gegebenheiten; ein Umstand, der nicht leugnet, daß er sich für seine Sache aufopferte, ein begabter Rhetoriker war, Medien zu nutzen wußte und charismatisch wirkte. Es verwundert nicht, daß die einzigen intellektuellen Ausflüge, die Kühnen unternahm, nicht innerhalb des eigenen Milieus vonstatten gingen, sondern einerseits in einem Dialog mit dem jüdischen Linksliberalen Erich Fried und andererseits in einer Gastrolle in Hans-Dietrich Sanders Zeitschrift Staatsbriefe zu finden sind. Es sind dies die stärkeren Abschnitte in Bräuningers Studie, mit der sich weder Verlag (die Aufmachung ist plump, auf Lektorat wurde verzichtet) noch Autor einen Gefallen getan haben.
Das Werk entmystifiziert Kühnen als Produkt seiner Zeit: inhaltlich der spröde Aufguß eines verblichenen Hitlerismus, habituell die Parodie der Sturmabteilungen (SA); summa summarum das Zerrbild einer fundamental-oppositionellen Bewegung und das perfekte Objekt medialer Skandalisierung.