Willi Baer, Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.): Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien Band II

Willi Baer, Karl-Heinz Dellwo (Hrsg.): Verdeckter Bürgerkrieg und Klassenkampf in Italien Band II – Die sechziger Jahre. Revolte und Strategie der Spannung, Hamburg: Laika 2015. 424 S., 29.90 €

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Die von Wil­li Baer und dem ehe­ma­li­gen RAF-Ter­ro­ris­ten Karl-Heinz Dell­wo her­aus­ge­ge­be­ne Biblio­thek des Wider­stands ist ein inzwi­schen auf 32 Bän­de ange­wach­se­nes enzy­klo­pä­di­sches Monu­men­tal­werk zur Geschich­te der lin­ken Bewe­gun­gen, ins­be­son­de­re der sech­zi­ger und sieb­zi­ger Jah­re. Dem »Ver­deck­ten Bür­ger­krieg und Klas­sen­kampf in Ita­li­en« wid­me­te der stramm rote Ver­lag bereits zwei volu­mi­nö­se und reich bebil­der­te Bän­de. Der jüngs­te Band kon­zen­triert sich auf die Jah­re 1967–68, mit einem Schwer­punkt zum Bom­ben­at­ten­tat auf der Mai­län­der Piaz­za Fon­ta­na am 12. Dezem­ber 1969 und sei­nen Folgen.

Der Anschlag kos­te­te 17 Men­schen­le­ben und gilt als Beginn der von ita­lie­ni­schen Geheim­diens­ten, der NATO-»Stay-Behind«-Organisation Gla­dio und den Strip­pen­zie­hern der Geheim­or­ga­ni­sa­ti­on Pro­pa­gan­da Due orches­trier­ten »Stra­te­gie der Span­nung«. Der Ansturm gegen den Staat durch sich radi­ka­li­sie­ren­de Stu­den­ten- und Arbei­ter­pro­tes­te, der Ende der sech­zi­ger Jah­re sei­nen Höhe­punkt erreich­te, soll­te neu­tra­li­siert wer­den; um die Stim­mung im Land gegen die Roten zu kip­pen, wur­den gezielt ter­ro­ris­ti­sche Aktio­nen unter »fal­scher Flag­ge« inszeniert.

So auch in Mai­land, wo dem Anar­chis­ten Giu­sep­pe Pinel­li die Rol­le des »fall guy« zuge­schanzt wur­de, und zwar buch­stäb­lich: er stürz­te unter unge­klär­ten Umstän­den aus dem fünf­ten Stock des Poli­zei­prä­si­di­ums. Tat­säch­lich ging das Atten­tat auf das Kon­to der faschis­ti­schen Orga­ni­sa­ti­on Ordi­ne Nuo­vo, die sich zum Erfül­lungs­ge­hil­fen des »Staats­ter­rors« machen ließ.

Von beson­de­rem Inter­es­se ist hier­zu der Bei­trag des His­to­ri­kers Mim­mo Franzinel­li, der die Ver­stri­ckun­gen zwi­schen Schwarz­hem­den und Geheim­diens­ten beleuch­tet. Die Mit­glie­der des ON waren zum Teil schil­lern­de Figu­ren: sein Kopf Pino Rau­ti war ein Anhän­ger Juli­us Evo­las, Fran­co Fre­da eine Art »Nazi-Mao­ist«, der die extre­mis­ti­schen Kräf­te von links und rechts bün­deln woll­te, um den »Zer­fall des Sys­tems« zu beschleu­ni­gen, wäh­rend Mario Mer­li­no anti­kle­ri­ka­le und katho­li­sche, anar­chis­ti­sche und faschis­ti­sche Grup­pen frequentierte.

Eine Zer­ris­sen­heit und Iden­ti­täts­su­che, in der Franzinel­li eine gene­rel­le Zeit­si­gna­tur sieht: »All dies ist schwer ver­ständ­lich für jeman­den, der die­se an Erschüt­te­run­gen rei­che Peri­ode, in der es scheint, als müs­se die kul­tu­rel­le und poli­ti­sche Ord­nung von heu­te auf mor­gen zusam­men­bre­chen, nicht erlebt hat.«

Wie alle Bän­de der Biblio­thek ist auch die­ser mit einer DVD-Zuga­be aus­ge­stat­tet, die rare Film­do­ku­men­te ent­hält, dar­un­ter ein beson­de­rer Schatz, den der Lai­ka-Ver­lag zusam­men mit der Cine­te­ca di Bolo­gna geho­ben hat: Der 12. Dezem­ber (1972) ist ein lan­ge »ver­schol­le­ner« Film, an dem kein Gerin­ge­rer als Pier Pao­lo Paso­li­ni maß­geb­lich betei­ligt war. Aus­ge­hend vom Kri­mi­nal­fall um Pinel­li gerät er ansatz­wei­se zu einer Art sozio­lo­gi­schen Umschau quer durch Ita­li­en, läßt ein­fa­che Leu­te zu Wort kom­men. Beson­ders in die­sen Sze­nen ist die Hand­schrift des Autors unverkennnbar.

Der Film ent­stand in Zusam­men­ar­beit mit der links­ra­di­ka­len Grup­pe Lot­ta Con­ti­nua (»Stän­di­ger Kampf«), für die Paso­li­ni Sym­pa­thien heg­te, der er aber wie allen ein­schlä­gi­gen Grup­pen die­ser Zeit mit soli­tä­rer Distanz gegen­über­stand. Auch er, der sich von den revo­lu­tio­nä­ren »Illu­sio­nen« sei­ner Jugend bereits ver­ab­schie­det hat­te, war von der inne­ren »Zer­ris­sen­heit« sei­ner Epo­che geprägt: zur glei­chen Zeit wie das in rohem Schwarz­weiß gefilm­te Doku­ment dreh­te er def­ti­ge, schein­bar der Poli­tik den Rücken zukeh­ren­de Publi­kums­schla­ger wie »Deca­me­ro­ne«. Unter­des­sen wuchs sein Pes­si­mis­mus, Mai­land erschien ihm als das Vor­spiel einer wahr­haft »apo­ka­lyp­ti­schen« Zukunft.

Den 2.Band von Ver­deck­ter Bür­ger­krieg und Klas­sen­kampf in Ita­li­en von Wil­li Baer und Karl Heinz Dell­wo kann man hier bestel­len.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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