Herfried Münkler: Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin: Rowohlt 2015. 396 S., 24.95 €
Zu den wenigen lesenswerten Politikwissenschaftlern in Deutschland gehört zweifellos Herfried Münkler. Er vertritt die hierzulande kaum gepflegte »realistische« Variante seiner Wissenschaft, die jenseits aller demokratietheoretischen Wunschträume den Faktor Macht als Zentralmoment des Politischen ernstnimmt und deren gewaltsame Durchsetzung in Rechnung stellt. Das genügt einschlägigen Studenten, um den Professor an der Berliner Humboldt-Universität unter »Münkler-Watch« zu stellen.
Wie nicht zuletzt seine Stellungnahme zur Migrationspolitik der Kanzlerin zeigt, der er positive Seiten abgewinnt, ist Münkler indes kein Rechter. Den klassischen europäischen Nationalstaat hält er für überholt und das Bestreben zur Erhaltung räumlich begrenzter politischer Solidargemeinschaften auf ethnisch homogener Basis für ein Nischenprojekt. Seine Überzeugung bringt er in dem hier zu rezensierenden Buch mit einer Variation der klassischen Formel Carl Schmitts zum Ausdruck: »Weltpolitischer Souverän ist, wer die globalen Kommunikationsräume beherrscht«.
In der neuen Geopolitik im 21. Jahrhundert sei nicht mehr die fest-umrissene territoriale Herrschaft durch klassische Staaten, sondern die Beherrschung des Fluiden, der Ströme von Informationen, Waren, Kapital und Menschen entscheidend. In der Lage dazu würden auf Dauer drei bis fünf raumbeherrschende politische Gebilde sein. Wenn er unser Land in seinem ebenfalls 2015 erschienen Buch als Macht in der Mitte beschreibt, dann um darin die »neuen Aufgaben Deutschlands in Europa« zu definieren, die letzteres als imperiumsähnliches Konstrukt in die Lage versetzen sollen, bei der Gestaltung der Neuen Weltordnung ein Wörtchen mitzureden.
Die »Kriegssplitter« resümieren in 14 miteinander verknüpften, aber nicht systematisch aufeinander aufbauenden Kapitel die Erkenntnisse aus Münklers Publikationen der letzten 20 Jahre. Es handelt sich um den Zwischenstand einer laufenden Beobachtung, nicht um ein finales Fazit, was das Buch umso interessanter macht. In ihrer ganzen Fülle können Münklers Erkenntnisse an dieser Stelle nicht gewürdigt werden. Seine zentralen Aussagen zur Entwicklung des Krieges sind hier zu rekapitulieren.
Münkler hatte bereits 2002 in seinem Buch über die Neuen Kriege die Tendenz zur Entstaatlichung von militärischer Gewaltanwendung und zur asymmetrischen Kriegführung beschrieben. Nun hebt er die Probleme hervor, die durch den Aufstieg von Akteuren entstanden sind, deren Machtbasis nicht territoriale Herrschaft, sondern räumlich nicht fixierbare Netzwerke bilden, wobei er unter letzteren nicht nur Terroristen und Hacker, sondern auch multinationale Firmen und NGOsversteht.
Solange Krieg ein Monopol von Territorialstaaten war, existierte eine gewisse Symmetrie gegenseitiger Verletzbarkeit und der Fähigkeit, den anderen zu verletzten. Gewaltanwendung konnte einem rationalen Kalkül von Kosten und Nutzen unterworfen und damit prinzipiell eingehegt werden. Gegenüber einem Akteur, der keinen materiellen »body politic« besitzt, ist aber eine symmetrische Vergeltung unmöglich. Schutz vor Angriffen auf die eigene Infrastruktur gewährt nur ein Informationsvorsprung und entsprechende Prävention, der Ausbau der staatlichen Spähdienste ist die konsequente Folge.
Netzwerkbasierte Angreifer, die weniger auf Cyberwar, denn auf herkömmliche physische Gewalt setzen, um ihre Ziele zu erreichen, sehen sich heute einem technisch hochgerüsteten Militär gegenüber, das sie kaum mehr ernsthaft verwunden können und werden deshalb zunehmend weiche zivile Ziele wählen. Und zwar um so mehr, als sie im Westen auf postheroische Gesellschaften stoßen, die schon durch die Verbreitung von Gewaltbildern in Panik zu versetzen sind.
Beweisen die jüngsten Ereignisse die Richtigkeit seiner Analyse, kann man über Münklers Lösungsvorschläge streiten. Seine Forderung, daß auch in postheroischen Gesellschaften ein gewisser »Restheroismus« zu pflegen sei, dürfte bei den Lesern dieser Zeitschrift auf Zustimmung stoßen, nicht aber der Ausbau der staatlichen Spähdienste und sein Lob des Drohnenkrieges. Münklers machtrationales Kalkül ist schwer zu widerlegen: die Drahtzieher der terroristischen Netzwerke können so unter beständigen Druck gesetzt werden und im Drohnenkrieg eigene, für eine postheroische Gesellschaft schwer zu ertragende Todesopfer und von der Gegenseite propagandistisch nutzbare »zivile« Kollateralschäden besser vermieden werden als bei herkömmlichen Luftangriffen oder Kommandoaktionen.
Bei aller Einzelkritik: Münklers jüngste Publikation ist aufschlußreich, weil sie den Erscheinungen auf den machtpolitischen Grund geht. Auch für diejenigen, die seinen Lösungsempfehlungen skeptisch gegenüberstehen, enthalten sie eine Fülle von wertvollen Beobachtungen zur Entwicklung der neuen Geopolitik und des Kriegsgeschehens der letzten Jahrzehnte, die diese erst wirklich verständlich werden lassen. Wer Münkler nicht gelesen hat, sollte zu diesen Themen besser schweigen.
Herfried Münkler: Kriegssplitter kann man hier bestellen