Wenn man Reich-Ranicki glauben darf, »ist der Sport an sich für die Literatur uninteressant«, weil der Sport all das liefere, was das Publikum brauche: Spannung und Unterhaltung. Der Sport vermag es zudem noch, die Zuschauer zu »fast identisch reagierenden Gemeinschaften werden lassen« (was die Literatur nicht kann).
Dennoch hat eine dramatische Sportart wie das Boxen Eingang in die Literaturgeschichte gefunden, wohingegen der wenig aufregende Langlauf es lediglich zur Metapher gebracht hat. Insofern ist es ein Wagnis, wenn ein Schriftsteller wie Matthias Politycki ein Buch über den Marathon schreibt. Die Geschichte des ersten Marathonläufers ist zwar an Dramatik kaum zu überbieten, doch darum geht es Politycki nicht. Es geht ihm um das Laufen, dem Millionen frönen, um im besten Fall mal an die Leistungsgrenze zu gehen, mithin um das, was in Deutschland unter »Volkslauf« firmiert. Politycki hat keinen Roman über das Laufen geschrieben, sondern ein Buch, das geschickt zwischen Erfahrungsbericht und Beobachtungen über die laufende Allgemeinheit pendelt.
Politycki ist offenbar relativ spät zum Marathon und damit zum ernsthaften Training gekommen. Jedenfalls stammen seine Bestzeiten für den Halbmarathon und den Marathon aus dem Jahr 2013, da war er bereits fast 60. Politycki beschreibt das Laufen aus dem Blickwinkel desjenigen, der beim Laufen ein Ziel braucht, das über den Erhalt der eigenen Leistungsfähigkeit hinausgeht. Das Buch ist in 42 Kapitel unterteilt, die sich mit unterschiedlichsten Aspekten des Laufens beschäftigen.
Selbst wenn diese Beschäftigung manchmal ins technische Detail geht (etwa bei der Frage der besten Laufschuhe), so bleibt Politycki doch meistens als derjenige erkennbar, als der er auch in konservativen Kreisen geschätzt wird: Als ein sprachbewußter Autor, der sich über die menschliche Bedürftigkeit nach Halt und Grenze keine Illusionen macht und das Laufen als einen notwendigen Luxus definiert.
Daß es sich beim Laufen um Luxus handelt, ist einleuchtend. Die Zeit zum Laufen muß man sich nehmen wollen (und können). Notwendig ist das Laufen, weil es eine Möglichkeit ist, sich der »medialen Dauerberieselung« zu entziehen. Diesen Luxus hat jeder selbst in der Hand. Nicht wenige verzichten darauf, weil sie Telefon oder Musik mit sich führen. Nicht so Politycki, der die Stille lobt oder die Geräusche der Umgebung auf sich wirken läßt.
Einen weiteren Luxus sieht Politycki darin, daß man beim Laufen nur eine Sache macht, wohingegen wir sonst gewohnt sind, mehrere Sachen gleichzeitig zu tun: »Erst wenn man auch all das Langweilige am Laufen akzeptiert, ist man bereit für den Moment, wo die Ödnis der Strecke aufreißt und das Glück am Wegesrand freigibt.« Es sind Sätze wie dieser, die zeigen, daß Sport für die Literatur durchaus interessant sein kann.
42,195. Warum wir Marathon laufen und was wir dabei denken von Matthias Politycki kann man hier bestellen.