Pseudo-Nonkonformisten gibt es im heutigen Literaturbetrieb viele, aber wenn ein Autor von der unter der Ägide von Alain de Benoist stehenden Zeitschrift Éléments als widerständig und dissident gewürdigt wird, dann sollte man die Ohren spitzen. Im Oktober 2014 stellte das Magazin der Ideen für die europäische Zivilisation unter dem Titel »Die Unbeugsamen« drei französische Romanciers vor, die hierzulande gänzlich unbekannt sind: Jean-François Roseau, Olivier Maulin und die 1982 in Paris geborene Solange Bied-Charreton.
Letztere ist bisher die einzige im Bunde des zeitgeistüberdrüssigen Trios, die ins Deutsche übersetzt wurde: Ihr Romandebüt Enjoy aus dem Jahr 2012 erschien im März im Bremer Sujet-Verlag, dessen Schwerpunkt iranische Exilliteratur ist. Im Mittelpunkt steht der Endzwanziger Charles Valérien, Angestellter in einer Consulting-Agentur, dessen Dasein sich nahezu vollständig im Nirvana des Internets abspielt, insbesondere in einem fiktiven sozialen Netzwerk namens ShowYou, einer Art potenzierter Fusion aus Facebook und Youtube.
Wer seinen sozialen Status gehoben sehen und die Virtualisierung seiner Identität auf das nächste Level heben will, kommt an ShowYou nicht vorbei. Dort herrscht allerdings strenger Posting-Zwang: wer es verabsäumt, sein wöchentliches Video hochzuladen, wird für immer aus diesem letzten Schrei der öffentlichen Selbstdarstellung verbannt. Bied-Charreton zeichnet dieses Netzwerk als dystopische, logische Weiterentwicklung laufender Trends und zeigt, wie die totale Vernetzung den Konformitätsdruck erhöht: es gibt kein Entrinnen aus dem alle privaten, beruflichen und öffentlichen Grenzen verwischenden, wohligen Gefängnis des Internets, das ortlos-allgegenwärtig ist wie ein totalitärer Krake. Was nicht photographiert, gefilmt, hochgeladen und gepostet wird, existiert gleichsam nicht. Erst auf der virtuellen Bühne wird das Leben »real« und begehrenswert.
Als Charles auf die junge Anne-Laure trifft, kann er zunächst kaum fassen, daß ein Lebewesen existiert, das man weder »googeln« noch auf ShowYou nachschlagen und »adden« kann. Obwohl ihn Anne-Laure ziemlich rasch in die asexuelle Zone der »guten Freunde« verbannt, scheint es nun doch, als könne ihn der frische Wind des Eros aus seiner platonischen Schattenhöhle ins »wirkliche« Leben hineinziehen.
Am Ende gestattet Bied-Charreton immerhin einer ihrer Figuren den kathartischen Ausbruch aus der Virtualität, der nicht ohne Grund mit einer religiösen Erschütterung einhergeht. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß es hier um mehr als nur um »Konsumkritik« geht. Enjoy durchzieht ein subtiler, im besten Sinne »kulturpessimistischer« Unterton, wobei die Autorin weitgehend der an dieser Stelle naheliegenden Gefahr des Formelhaften und Didaktischen entgeht. Sie bewohnt sozusagen ihren Ich-Erzähler Charles wie ein beobachtender Geist, der in einen fremden und doch vertrauten Körper geschlüpft ist, eine seltsame Spaltung zwischen einer weiblichen Erzählerin und einer – nicht hundertprozentig gelungenen – männlichen Figur.
Hinzu kommt, daß die Autorin Solange Bied-Charreton weitaus klüger und reflektierter ist als ihr eher hohler Protagonist, der zuweilen unvermittelt zu tiefschürfenden und komplexen Betrachtungen ansetzt. Wer hier eine Wahlverwandtschaft zu Michel Houellebecq vermutet, liegt richtig: in einem Artikel für den Figaro pries Bied-Charreton dessen Werk als »Spiegel unserer Epoche«, die allerdings keine Verwendung mehr für Literatur hat, und vorzieht, was »nützlich und rentabel« ist.
Im Gegensatz zu ihrem großen misan-thropischen Landsmann ist Bied-Charreton keine Nihilistin. Ihre Kritik am modernen Individuum, das sich in ihren Augen benimmt »wie ein unerträgliches, verdorbenes Kind«, nährt sich aus Sensibilitäten, die zunehmend in Vergessenheit geraten: »Ich komme aus einem Land, das nicht mehr existiert, dem Frankreich meiner Eltern und Großeltern, und dem ich in der Tat meinen kritischen Blick auf diese Gesellschaft verdanke.«
In einem satirischen Essay für Le Monde machte sich Bied-Charreton über »progressistische« Moden in der Kirche lustig und bekannte sich in einem daran anschließenden Kommentar zur Tradition von Péguy und Bernanos, verwahrte sich aber dagegen, zur »christlichen« Schriftstellerin reduziert zu werden: »Mein Ding, das ist der schwarze Humor.«
Trotz des subversiven, sympathisch »reaktionären« Tonfalls fällt Enjoy am Ende aber doch eine Spur zu harmlos aus. Als exzellentes, satirisch verfremdetes Sittengemälde bleibt das Buch jedoch nachhaltig im Gedächtnis. Der Rezensent hofft, daß die begabte Autorin, die übrigens auch liberalismuskritische Querdenker wie Jean-Claude Michéa und radikale Außenseiter wie René Guénon zu ihren bevorzugten Lektüren zählt, ihre literarischen Revolten gegen die moderne Welt weiter zuspitzen wird.
Solange Bied-Charretons Enjoy kann man hier bestellen.