Solange Bied-Charreton: Enjoy

Solange Bied-Charreton: Enjoy, Bremen: Sujet 2015. 260 S., 10.50 €

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

 Pseu­do-Non­kon­for­mis­ten gibt es im heu­ti­gen Lite­ra­tur­be­trieb vie­le, aber wenn ein Autor von der unter der Ägi­de von Alain de Benoist ste­hen­den Zeit­schrift Éléments als wider­stän­dig und dis­si­dent gewür­digt wird, dann soll­te man die Ohren spit­zen. Im Okto­ber 2014 stell­te das Maga­zin der Ideen für die euro­päi­sche Zivi­li­sa­ti­on unter dem Titel »Die Unbeug­sa­men« drei fran­zö­si­sche Roman­ciers vor, die hier­zu­lan­de gänz­lich unbe­kannt sind: Jean-Fran­çois Roseau, Oli­vi­er Mau­lin und die 1982 in Paris gebo­re­ne Solan­ge Bied-Charreton.

Letz­te­re ist bis­her die ein­zi­ge im Bun­de des zeit­gei­st­über­drüs­si­gen Tri­os, die ins Deut­sche über­setzt wur­de: Ihr Roman­de­büt Enjoy aus dem Jahr 2012 erschien im März im Bre­mer Sujet-Ver­lag, des­sen Schwer­punkt ira­ni­sche Exil­li­te­ra­tur ist. Im Mit­tel­punkt steht der End­zwan­zi­ger Charles Valé­ri­en, Ange­stell­ter in einer Con­sul­ting-Agen­tur, des­sen Dasein sich nahe­zu voll­stän­dig im Nir­va­na des Inter­nets abspielt, ins­be­son­de­re in einem fik­ti­ven sozia­len Netz­werk namens Show­Y­ou, einer Art poten­zier­ter Fusi­on aus Face­book und Youtube.

Wer sei­nen sozia­len Sta­tus geho­ben sehen und die Vir­tua­li­sie­rung sei­ner Iden­ti­tät auf das nächs­te Level heben will, kommt an Show­Y­ou nicht vor­bei. Dort herrscht aller­dings stren­ger Pos­ting-Zwang: wer es ver­ab­säumt, sein wöchent­li­ches Video hoch­zu­la­den, wird für immer aus die­sem letz­ten Schrei der öffent­li­chen Selbst­dar­stel­lung ver­bannt. Bied-Char­re­ton zeich­net die­ses Netz­werk als dys­to­pi­sche, logi­sche Wei­ter­ent­wick­lung lau­fen­der Trends und zeigt, wie die tota­le Ver­net­zung den Kon­for­mi­täts­druck erhöht: es gibt kein Ent­rin­nen aus dem alle pri­va­ten, beruf­li­chen und öffent­li­chen Gren­zen ver­wi­schen­den, woh­li­gen Gefäng­nis des Inter­nets, das ort­los-all­ge­gen­wär­tig ist wie ein tota­li­tä­rer Kra­ke. Was nicht pho­to­gra­phiert, gefilmt, hoch­ge­la­den und gepos­tet wird, exis­tiert gleich­sam nicht. Erst auf der vir­tu­el­len Büh­ne wird das Leben »real« und begehrenswert.

Als Charles auf die jun­ge Anne-Lau­re trifft, kann er zunächst kaum fas­sen, daß ein Lebe­we­sen exis­tiert, das man weder »goo­geln« noch auf Show­Y­ou nach­schla­gen und »adden« kann. Obwohl ihn Anne-Lau­re ziem­lich rasch in die ase­xu­el­le Zone der »guten Freun­de« ver­bannt, scheint es nun doch, als kön­ne ihn der fri­sche Wind des Eros aus sei­ner pla­to­ni­schen Schat­ten­höh­le ins »wirk­li­che« Leben hineinziehen.

Am Ende gestat­tet Bied-Char­re­ton immer­hin einer ihrer Figu­ren den kathar­ti­schen Aus­bruch aus der Vir­tua­li­tät, der nicht ohne Grund mit einer reli­giö­sen Erschüt­te­rung ein­her­geht. Spä­tes­tens an die­ser Stel­le wird deut­lich, daß es hier um mehr als nur um »Kon­sum­kri­tik« geht. Enjoy durch­zieht ein sub­ti­ler, im bes­ten Sin­ne »kul­tur­pes­si­mis­ti­scher« Unter­ton, wobei die Autorin weit­ge­hend der an die­ser Stel­le nahe­lie­gen­den Gefahr des For­mel­haf­ten und Didak­ti­schen ent­geht. Sie bewohnt sozu­sa­gen ihren Ich-Erzäh­ler Charles wie ein beob­ach­ten­der Geist, der in einen frem­den und doch ver­trau­ten Kör­per geschlüpft ist, eine selt­sa­me Spal­tung zwi­schen einer weib­li­chen Erzäh­le­rin und einer – nicht hun­dert­pro­zen­tig gelun­ge­nen – männ­li­chen Figur.

Hin­zu kommt, daß die Autorin Solan­ge Bied-Char­re­ton weit­aus klü­ger und reflek­tier­ter ist als ihr eher hoh­ler Prot­ago­nist, der zuwei­len unver­mit­telt zu tief­schür­fen­den und kom­ple­xen Betrach­tun­gen ansetzt. Wer hier eine Wahl­ver­wandt­schaft zu Michel Hou­el­le­becq ver­mu­tet, liegt rich­tig: in einem Arti­kel für den Figa­ro pries Bied-Char­re­ton des­sen Werk als »Spie­gel unse­rer Epo­che«, die aller­dings kei­ne Ver­wen­dung mehr für Lite­ra­tur hat, und vor­zieht, was »nütz­lich und ren­ta­bel« ist.

Im Gegen­satz zu ihrem gro­ßen mis­an-thro­pi­schen Lands­mann ist Bied-Char­re­ton kei­ne Nihi­lis­tin. Ihre Kri­tik am moder­nen Indi­vi­du­um, das sich in ihren Augen benimmt »wie ein uner­träg­li­ches, ver­dor­be­nes Kind«, nährt sich aus Sen­si­bi­li­tä­ten, die zuneh­mend in Ver­ges­sen­heit gera­ten: »Ich kom­me aus einem Land, das nicht mehr exis­tiert, dem Frank­reich mei­ner Eltern und Groß­el­tern, und dem ich in der Tat mei­nen kri­ti­schen Blick auf die­se Gesell­schaft verdanke.«

In einem sati­ri­schen Essay für Le Mon­de mach­te sich Bied-Char­re­ton über »pro­gres­sis­ti­sche« Moden in der Kir­che lus­tig und bekann­te sich in einem dar­an anschlie­ßen­den Kom­men­tar zur Tra­di­ti­on von Péguy und Ber­na­nos, ver­wahr­te sich aber dage­gen, zur »christ­li­chen« Schrift­stel­le­rin redu­ziert zu wer­den: »Mein Ding, das ist der schwar­ze Humor.«

Trotz des sub­ver­si­ven, sym­pa­thisch »reak­tio­nä­ren« Ton­falls fällt Enjoy am Ende aber doch eine Spur zu harm­los aus. Als exzel­len­tes, sati­risch ver­frem­de­tes Sit­ten­ge­mäl­de bleibt das Buch jedoch nach­hal­tig im Gedächt­nis. Der Rezen­sent hofft, daß die begab­te Autorin, die übri­gens auch libe­ra­lis­mus­kri­ti­sche Quer­den­ker wie Jean-Clau­de Michéa und radi­ka­le Außen­sei­ter wie René Gué­non zu ihren bevor­zug­ten Lek­tü­ren zählt, ihre lite­ra­ri­schen Revol­ten gegen die moder­ne Welt wei­ter zuspit­zen wird.

Solan­ge Bied-Char­re­tons Enjoy kann man hier bestel­len.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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