Ralf Rothmann: Im Frühling sterben. Roman, Berlin: Suhrkamp 2015. 234 S., 19.95 €
Zwei große Romane mit zahlreichen Parallelen: Beide kreisen um die Taten der Väter im Zweiten Weltkrieg. Grundlage für die Fiktion sind die echten Väter. Beide Autoren gehören der gleichen Generation an (Koneffke 1960, Rothmann 1953), sind preisgekrönte Schriftsteller. Es sind beides bildmächtige, atmosphärisch dichte Werke. In beiden geht es nicht um »Abrechnung« – diese Zeiten scheinen vorbei.
Beider Väter wurden siebzehnjährig in den Krieg mehr hineingezogen, haben getötet. Beide Väter waren hernach (mindestens) sozialdemokratisch gesinnte Pazifisten, die sich über ihre Vergangenheit ausschwiegen. Vater Koneffke reüssierte gar als linksliberaler Bildungstheoretiker. Wie staunte der Sohn, als er im Nachlaß Briefe fand, in denen Papa prahlt, wie er zwei »dußlige Iwans zu Suppe aus Blut, Eingeweiden und Knochen« zusammenschoß!
Nebenbei sind beide Bücher hervorragend recherchiert. Rothmanns Buch ist trotz sprachlicher Stärke das schwächere Buch. Es ist bei aller Ausdifferenzierung der Emotion das Vorhersagbarere. Im Kern ist es die ausgeweitete Prosaform des von Adelbert von Chamisso prominent übertragenen Andersen-Gedichts »Der Soldat«: Dort haben »neun angelegt« ‚»acht Kugeln haben vorbeigefegt / Sie zitterten alle vor Jammer und Schmerz, / Ich aber, ich traf ihn mitten ins Herz!«
Das ist eine der Kernszenen in Rothmanns Buch: Wie Pro-tagonist Walter bei der Exekution seines fahnenflüchtigen Freundes Fiete selbst Hand anlegen muß.
Die andere Szene steht zu Beginn des Romans: Wie auf einer feuchtfröhlichen Feier Dutzende Jungen als »Freiwillige« für die SSrekrutiert werden – indem ein Parteimann sich auf die Bühne stellt und »vorschlägt«, daß »jeder Mann auf diesem Fest (…) heute Abend freiwillig in die siegreiche Waffen-SSeintritt. (…) Wer dagegen ist, kann ja jetzt aufstehen.« Natürlich gibt es keine Drückeberger!
Trotz aller ansonsten vielfach colorierten Bilderhaftigkeit unterwirft Rothmann sein Personal weitgehend einem Schwarzweißschema; so sehr, daß der Leser manch kalkuliert wirkender Evokation nur widerstrebend folgt. Die Bösen haben »fette Hände«, polierte Stiefel, » schlaffe breite Lippen« und gabern Kaffeetropfen auf andachtsvoll vor ihnen ausgebreiteten Madonnenbildern. War es so? Oder war es viel weniger eindeutig, nämlich wie es uns Koneffke zeigt in seinem großartigen Roman, der seine Handlung bis ins Jahr 2007 spannt? Der traurige Kriegsheld heißt hier Konrad. Über seinem Leben (als Sonntagskind eben) steht der Stern des von Gewissensbissen geplagten, doch glückhaften Sich-Durchwurschtelns.
Konrad ist vor allem eines: Ein stets korrekter Mensch. Die Buchhalterseele seines Vaters hat Konrad geerbt. Er kennt seine Soll- und Haben-Seiten gut; sprich: Er weiß, wem er wann zu dienen hat.
Seine Karriere als Wehrmachtssoldat, als (bald verschämter) Träger des EKerster Klasse, als freiwilliger Held eines Sondereinsatzkommandos ist beachtlich. Früh hatte er bei der SSunterschrieben. Um einem Einsatz dort zu entgehen, meldet er sich rasch als Reserveoffiziersanwärter der Wehrmacht. Diese Bewerbung sticht die alte Unterschrift. Konrad zieht hier keineswegs zum letzten Mal seinen Kopf aus der Schlinge. Er ist ausgezeichnet darin, Haken zu schlagen – doch jede Flucht hat Konsequenzen, zumal Konrads Schicksalsrad (logisch) rund ist. Immer wieder schließt sich der Kreis. Ohne Fett anzusetzen (im Gegenteil, er schaut so gut aus, daß ihm Minderjährige verfallen!), schwimmt er auch in der Suppe des Nachkriegs obenauf. Zeitlebens fragt er sich, wie sich seine »Reue und Scham in den Griff bekommen lassen« (vor allem die in innerer Abspaltung wütenden Gewissensbisse darüber, daß er seinen Freund mit Bauchschuß hat verrecken lassen, daß er bei der Exekution eines Kameraden mitwirkte) – die Wogen der Zeit lassen ihn stets mit der Schaumkrone der Brandung das je nächste Ufer erreichen.
Nach der Flucht aus Pommern brandet eine Leidenschaft in ihm auf, die ausnahmsweise nicht unterleiblichen Gefilden entstammt: Eine Leidenschaft für Kant, den er (»Zum ewigen Frieden«) sogar im »Klokabuff auf verkrusteter Holzbrille« studiert. Konrad verfaßt einen Aufsatz »Zur Antinomie zwischen Freiheit und Pflicht zur moralischen Handlung«, reicht ihn an übergeordneter Stelle ein – und voilà, das Schicksal trägt ihm akademische Weihen an.
Konrad wird Dozent im tiefroten Frankfurt. Er paßt sich formidabel ein ins neue Paradigma. Er schließt sich den Ultralinken an, predigt die Philosophie des Partisanen. Im Grunde kann Konrad nichts für seine neuerliche Bestimmung – er kann eigentlich für nichts. Auch nicht dafür, daß er der Stasi zuarbeitet; es sind die Zeitläufte, die sein Geschick bestimmen – und Konrad ist nie derjenige, der unter die Räder gerät. Mittlerweile pflastern Leichen seinen Weg. Ist es seine Schuld? Jan Koneffke trifft in seiner überaus unterhaltsamen Tragödie keine dezidierte Unterscheidung zwischen guten und bösen Akteuren. Alle haben ihre (Ab-) Gründe, und welche! Mehr von dieser heiteren Misanthropie!
Jan Koneffkes Ein Sonntagskind und Ralf Rothmanns Im Frühling sterben kann man hier bestellen.