Berlin war seit 1871 nicht nur Reichshauptstadt, sondern das Zentrum eines aufstrebenden Reiches, das sich wirtschaftlich rasant entwickelte. Die Schattenseiten des Fortschritts waren daher auch in Berlin besonders zu spüren. Aus dieser Ausgangslage entwickelten sich verschiedene Strömungen, die sogenannte Lebensreformbewegung, die den Menschen vor den schädlichen Einflüssen der Moderne schützen bzw. retten wollten.
Daß das Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte in Potsdam dem Thema eine sehenswerte Ausstellung widmet, ist insofern konsequent, da Berlin zwar das geistige Zentrum der Lebensreform war, die praktische Umsetzung der Ideen aber in der Regel Platz benötigte, über den man in der Stadt gerade nicht verfügte. So wich man auf das Brandenburger Umland aus, das damit Experimentierfeld verschiedenster Lebensreformideen wurde. Im vorliegenden Katalog werden einige davon unter Verwendung ausschließlich zeitgenössischen Materials von verschiedenen Autoren, teilweise ausgewiesene Kenner, vorgestellt.
Die konkreten Projekte siedelten sich an verschiedenen Brandenburger Orten an und hatten größtenteils nicht lange Bestand. Die einzigen Projekte, die den Zweiten Weltkrieg und die DDR-Zeit überstanden haben, sind die Obstbaukolonie Eden (bei Oranienburg), der Demeterhof Marienhöhe (bei Potsdam) und die ein eigenes Christentum repräsentierende »Friedensstadt Weißenberg« (bei Trebbin). Alle anderen sind entweder an wirtschaftlichen Problemen zugrunde gegangen oder haben ihre lebensreformerischen Wurzeln gekappt. Letzteres ist insbesondere bei den zahlreichen Gartenstädten in Brandenburg der Fall, deren Häuser existieren und oftmals aufwendig saniert wurden (vorgestellt werden die Freiland-Siedlung Gildenhall bei Neuruppin und die völkische Siedlung Heimland, heute Rheinsberg). Auch am Motzener See, in den 1920er-Jahren das Zentrum der Nacktkultur, gibt es bis heute einen FKK-Zeltplatz, der allerdings eher pragmatisch orientiert ist und von der Nacktheit keine Erlösung mehr erwartet.
Eine zentrale Figur der Lebensreform, der Maler und Grafiker Fidus, der die Schriften der verschiedensten Reformbestrebungen illustrierte und damit allgegenwärtig war, wohnte ebenfalls in Brandenburg, genauer in Woltersdorf bei Erkner. In seinem Atelier- und Wohnhaus sollte vor bald zwanzig Jahren ein Museum der Lebensreform einziehen. Nachdem die Planungen schon weit fortgeschritten waren, scheiterte das Projekt an der Bauaufsichtsbehörde, die fehlende Parkmöglichkeiten monierte. Da Fidus seit 1932 NSDAP-Mitglied war, wurde im Unterstützerkreis die Vermutung geäußert, daß man sich auf diesem Weg um eine Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der deutschen Geschichte drücken wollte. Daß im vorliegenden Band an diese bezeichnende Posse erinnert wird, ist sehr zu begrüßen.
Einfach. Natürlich. Leben. Lebensreform in Brandenburg 1890–1939 von Christiane Barz kann man hier bestellen.