Die Volkswagenstiftung hat zwei Forschungsprojekte (zu »Autonomie« und zu »Prosozialem Verhalten«) gefördert, und es wirkt ein bißchen so, als habe man Harald Welzer geködert, aus den Ergebnissen ein ganzes, publikumstaugliches Buch mitzuformulieren. Nicht umsonst hat Welzer eine Professur für »Transformationsdesign« inne. Und wer, wenn nicht er, könnte das: Aus ein paar Resultaten Thesen zu formulieren, die gescheit und prägnant klingen und darüber hinaus »Aktualität« beanspruchen? Zur Seite gestellt wurde dem Tausendsassa Welzer Michael Pauen, Philosophieprofessor an der (Achtung Autonomie!) »Berlin School of Mind and Brain«.
In fünf Kapiteln, die in deutlich unterschiedlicher Weise klären, informieren und zuspitzen, werden für den Leser der Autonomiebegriff, seine Geschichte, empirische Erkenntnisse, seine Aktualität und seine Verteidigung durchdekliniert. Man liest es mal gelangweilt, mal gespannt, fühlt sich teils in den Oberstufenkurs »Ethik« versetzt, teils vor den Pult eines überroutiniert vortragenden Professors (»wie bereits gesagt …«), dann aber auch wieder begriffen in entscheidende Fragestellungen.
Autonomes Handeln ist selbstbestimmtes Handeln, ein Tun und Lassen nach eigenen Prinzipien, auch gegen Widerstände. Gegenbegriffe wären Anomie (zielloses Handeln) und Heteronomie, also Konformismus. Die konforme Persönlichkeit, so stellen die Autoren heraus, beugt sich ohne offenkundigen (etwa physischen, diktatorischen) Druck Erwartungen, und zwar solcher Art, daß oktroyierte Wünsche und Überzeugungen übernommen werden, ohne daß sich die Person dessen bewußt wird. Die massenhaft frequentierten »sozialen Netzwerke« und ihre Dynamiken sind ein gutes und hier gern zitiertes Beispiel, wie Konformismus inhaltlich und formal in einer Demokratie (die theoretisch auf »autonome« Teilhabe baut) magnetisch wirkt.
Einerseits ist Kooperation und damit auch Konformität ein basaler sozialer Mechanismus – wer sich durch stringentes »Anderstun« hervortut, stellt sich außerhalb der Gesellschaft, er handelt a‑sozial. Kooptierendes Handeln ist meist überlebenstauglich. Gegenbeispiele finden sich in Ernstfallsituationen, etwa im sogenannten Bystander-Effekt: Wenn bei einem Unfall oder kriminellen Übergriff mehrere Personen anwesend sind, sinkt die Wahrscheinlichkeit, daß einer helfend eingreift.
Ein neurowissenschaftliches Experiment spitzte die Lage derart zu, daß konformes Verhalten sogar bereits in der Wahrnehmung (also vor dem Handlungsimpuls) greift. Steht die Gruppenmeinung dem eigenen Augenschein entgegen, folgt schon der visuelle Verarbeitungsprozeß dem Schwarm – außer bei jenen wenigen, die als »hochautonom« disponiert sind. Im banalsten Experiment: Sagen neun (heimlich Eingeweihte), daß Balken b) der kürzeste ist, obwohl dies offenkundig auf Balken c) zutrifft, werden die meisten Probanden entgegen dem Augenschein der Gruppenmeinung folgen. Welzer und Pauen weisen auch auf ein modernes Paradoxon hin: »Wenn es in einer hochindividualisierten Gesellschaft viele Menschen vorziehen, sich für nonkonformistisch zu halten, kann das paradoxerweise gerade aus Gründen der Konformität geschehen.«
So könnte es kommen, daß ein neuer Totalitarismus »gar nicht in Uniform auftritt«, sondern sich innerhalb des verfassungsgemäßen Rahmens der freien Gesellschaft ausbreite. Die heutige Herrschaftsform sei demokratisch, während die »sozialen Verkehrsformen« bereits erste Merkmale des Totalitären zeigten – hingegen habe es im Nationalsozialismus noch Nischen der Intimität gegeben, obgleich die Herrschaft totalitär war.
Genannt wird für die Gegenwart das Phänomen der »shifting baselines«: Unsere eigenen Wahrnehmungen justieren sich stets gemäß dem Wandel der Gesellschaft. Welzer nennt hierzu ausdrücklich die »rituelle Macht des nachholenden Widerstands« – ausgeübt von Leuten, die heute statt gegen aktuelle Bedrohungen gegen das aufbegehren, was vor einem Dreivierteljahrhundert geschehen ist.
Es gibt soziale Dynamiken und Prozesse, die gleichsam der individuellen Kontrolle entzogen sind. Autonomes Handeln kostet heute kaum weniger als gestern. Die Probe nach theoretischer Selbsteinschätzung, auch das zeigt das Buch entlang empirischer Studien, gilt nicht: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.
Autonomie von Michael Pauen und Harald Welzer kann man hier bestellen.