Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung

Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2015. 336 S., 19.99 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Die Volks­wa­gen­stif­tung hat zwei For­schungs­pro­jek­te (zu »Auto­no­mie« und zu »Pro­so­zia­lem Ver­hal­ten«) geför­dert, und es wirkt ein biß­chen so, als habe man Harald Wel­zer gekö­dert, aus den Ergeb­nis­sen ein gan­zes, publi­kums­taug­li­ches Buch mit­zu­for­mu­lie­ren. Nicht umsonst hat Wel­zer eine Pro­fes­sur für »Trans­for­ma­ti­ons­de­sign« inne. Und wer, wenn nicht er, könn­te das: Aus ein paar Resul­ta­ten The­sen zu for­mu­lie­ren, die gescheit und prä­gnant klin­gen und dar­über hin­aus »Aktua­li­tät« bean­spru­chen? Zur Sei­te gestellt wur­de dem Tau­send­sas­sa Wel­zer Micha­el Pau­en, Phi­lo­so­phie­pro­fes­sor an der (Ach­tung Auto­no­mie!) »Ber­lin School of Mind and Brain«.

In fünf Kapi­teln, die in deut­lich unter­schied­li­cher Wei­se klä­ren, infor­mie­ren und zuspit­zen, wer­den für den Leser der Auto­no­mie­be­griff, sei­ne Geschich­te, empi­ri­sche Erkennt­nis­se, sei­ne Aktua­li­tät und sei­ne Ver­tei­di­gung durch­de­kli­niert. Man liest es mal gelang­weilt, mal gespannt, fühlt sich teils in den Ober­stu­fen­kurs »Ethik« ver­setzt, teils vor den Pult eines über­rou­ti­niert vor­tra­gen­den Pro­fes­sors (»wie bereits gesagt …«), dann aber auch wie­der begrif­fen in ent­schei­den­de Fragestellungen.

Auto­no­mes Han­deln ist selbst­be­stimm­tes Han­deln, ein Tun und Las­sen nach eige­nen Prin­zi­pi­en, auch gegen Wider­stän­de. Gegen­be­grif­fe wären Ano­mie (ziel­lo­ses Han­deln) und Hete­ro­no­mie, also Kon­for­mis­mus. Die kon­for­me Per­sön­lich­keit, so stel­len die Autoren her­aus, beugt sich ohne offen­kun­di­gen (etwa phy­si­schen, dik­ta­to­ri­schen) Druck Erwar­tun­gen, und zwar sol­cher Art, daß oktroy­ier­te Wün­sche und Über­zeu­gun­gen über­nom­men wer­den, ohne daß sich die Per­son des­sen bewußt wird. Die mas­sen­haft fre­quen­tier­ten »sozia­len Netz­wer­ke« und ihre Dyna­mi­ken sind ein gutes und hier gern zitier­tes Bei­spiel, wie Kon­for­mis­mus inhalt­lich und for­mal in einer Demo­kra­tie (die theo­re­tisch auf »auto­no­me« Teil­ha­be baut) magne­tisch wirkt.

Einer­seits ist Koope­ra­ti­on und damit auch Kon­for­mi­tät ein basa­ler sozia­ler Mecha­nis­mus – wer sich durch strin­gen­tes »Anderstun« her­vor­tut, stellt sich außer­halb der Gesell­schaft, er han­delt a‑sozial. Koop­tie­ren­des Han­deln ist meist über­le­bens­taug­lich. Gegen­bei­spie­le fin­den sich in Ernst­fall­si­tua­tio­nen, etwa im soge­nann­ten Bystan­der-Effekt: Wenn bei einem Unfall oder kri­mi­nel­len Über­griff meh­re­re Per­so­nen anwe­send sind, sinkt die Wahr­schein­lich­keit, daß einer hel­fend eingreift.

Ein neu­ro­wis­sen­schaft­li­ches Expe­ri­ment spitz­te die Lage der­art zu, daß kon­for­mes Ver­hal­ten sogar bereits in der Wahr­neh­mung (also vor dem Hand­lungs­im­puls) greift. Steht die Grup­pen­mei­nung dem eige­nen Augen­schein ent­ge­gen, folgt schon der visu­el­le Ver­ar­bei­tungs­pro­zeß dem Schwarm – außer bei jenen weni­gen, die als »hoch­au­to­nom« dis­po­niert sind. Im banals­ten Expe­ri­ment: Sagen neun (heim­lich Ein­ge­weih­te), daß Bal­ken b) der kür­zes­te ist, obwohl dies offen­kun­dig auf Bal­ken c) zutrifft, wer­den die meis­ten Pro­ban­den ent­ge­gen dem Augen­schein der Grup­pen­mei­nung fol­gen. Wel­zer und Pau­en wei­sen auch auf ein moder­nes Para­do­xon hin: »Wenn es in einer hoch­in­di­vi­dua­li­sier­ten Gesell­schaft vie­le Men­schen vor­zie­hen, sich für non­kon­for­mis­tisch zu hal­ten, kann das para­do­xer­wei­se gera­de aus Grün­den der Kon­for­mi­tät geschehen.«

So könn­te es kom­men, daß ein neu­er Tota­li­ta­ris­mus »gar nicht in Uni­form auf­tritt«, son­dern sich inner­halb des ver­fas­sungs­ge­mä­ßen Rah­mens der frei­en Gesell­schaft aus­brei­te. Die heu­ti­ge Herr­schafts­form sei demo­kra­tisch, wäh­rend die »sozia­len Ver­kehrs­for­men« bereits ers­te Merk­ma­le des Tota­li­tä­ren zeig­ten – hin­ge­gen habe es im Natio­nal­so­zia­lis­mus noch Nischen der Inti­mi­tät gege­ben, obgleich die Herr­schaft tota­li­tär war.

Genannt wird für die Gegen­wart das Phä­no­men der »shif­ting base­lines«: Unse­re eige­nen Wahr­neh­mun­gen jus­tie­ren sich stets gemäß dem Wan­del der Gesell­schaft. Wel­zer nennt hier­zu aus­drück­lich die »ritu­el­le Macht des nach­ho­len­den Wider­stands« – aus­ge­übt von Leu­ten, die heu­te statt gegen aktu­el­le Bedro­hun­gen gegen das auf­be­geh­ren, was vor einem Drei­vier­tel­jahr­hun­dert gesche­hen ist.

Es gibt sozia­le Dyna­mi­ken und Pro­zes­se, die gleich­sam der indi­vi­du­el­len Kon­trol­le ent­zo­gen sind. Auto­no­mes Han­deln kos­tet heu­te kaum weni­ger als ges­tern. Die Pro­be nach theo­re­ti­scher Selbst­ein­schät­zung, auch das zeigt das Buch ent­lang empi­ri­scher Stu­di­en, gilt nicht: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.

Auto­no­mie von Micha­el Pau­en und Harald Wel­zer kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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