Die Auseinandersetzung mit der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in Deutschland kann einem Schriftsteller eigentlich nur um die Ohren fliegen. Das hat man besonders plastisch am Beispiel Martin Walsers gesehen, doch auch die »moralische Instanz« Günter Grass geriet so ins öffentliche Fadenkreuz (vgl. Sezession66). Lukas Hammerstein, immerhin im Erstberuf Jurist, hat bei Matthes & Seitz Berlin deshalb zur Sicherheit einen ziemlich freischwebenden Essay veröffentlicht.
Genauer gesagt: einen »Deutsch-landessay«. Hammerstein betont gleich zu Anfang, der Moralismus der Deutschen reize ihn seit langem. Das heischt Zustimmung, auch wenn sein Objekt der Ablehung im Laufe der Zeit sehr unterschiedliche Gestalten angenommen hat. 1958 in Freiburg geboren und mit einem Onkel versehen, der vor seiner Entfremdung kurzzeitig der Weißen Rose nahegestanden habe, bekennt er sich freimütig zu seiner Gemütslage Mitte der 1970er Jahre: »Das Gefühl, überall Nazis am Werk zu sehen, ließ mich nicht mehr los, kaum daß ich erwachsen war.«
Hammersteins Betrachtungen der deutschen Befindlichkeit bewegen sich zwischen judikativen Festpunkten: dem Prozeß gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961 und jenem gegen John Demjanjuk in München 2009ff. Beide Gerichtsverfahren lösten – wie auch dazwischen liegende Ereignisse à la deutsche Holocaust-Erstausstrahlung 1979 – Wenden in der Vergangenheitsbetrachtung aus; das Buch spürt vor allem ihren ästhetischen und politischen Niederschlägen nach.
Diese stellten nach Hammersteins Beweisführung jeweils Umbewertungen »des Bösen« an sich dar. Unabhängig von der historischen Auseinandersetzung hätten diese es »den Deutschen« ermöglicht, sich schrittweise selbst zu remoralisieren, so daß (konkret im Beispiel der Schröderschen Weigerung, am Dritten Golfkrieg teilzunehmen) heute »der Friede als ein Meister aus Deutschland« erscheine. Gegen einen solchen Neomoralismus und »hypermoralische Scheindebatten« wie in unseren täglichen Polittalkshows richtet Hammerstein seine 15 Seiten lange »Kritik der sentimentalen Vernunft«, unter anderem mit einer genüßlichen Abkanzelung des Ehepaars Mitscherlich und ihrer Unfähigkeit zu trauern.
Daß der Autor einleitend den NSU-Prozeß zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen (über »Meine Schuld«) macht, kann man da ruhig hinnehmen. Ebenso kühne Behauptungen wie die, daß heute kein Mensch, »von alten und neuen Faschisten abgesehen«, Judenwitze machte – was Salcia Landmann und Oliver Polak glatt leugnen würden. Und immerhin gesteht Hammerstein ein, daß er sich mit seinem negativen NS-Fetisch »manchmal komisch vor(gekommen)« sei, dessen »böser Virus« ihm»das fiebrige Gefühl gab, gut zu sein«. Doch entschuldigt das nicht die mehreren Stellen, in denen er etwa behauptet, es hätten »quasi wir die alliierten Bomber gerufen« – der voreilige »Sündenstolz« (H. Lübbe) bricht sich eben manchmal noch Bahn. Hammerstein ist sein eigener Untersuchungsgegenstand.
Die Guten und das Böse. Deutschlandessay von Lukas Hammerstein kann man hier bestellen.