Im 70. Jahr nach dem vorgeblichen »Tag der Befreiung« (von Weizsäcker) scheinen einige Themen beforschbar zu werden, die unlängst noch das Karriereende für Historiker bedeutet hätten. Massenmedial wären sie keinesfalls rezipiert worden. Daß am 5. Mai 2015 zur besten Sendezeit alliierte Kriegsverbrechen thematisiert wurden, zeugt trotz inhaltlicher Mängel von sich langsam verändernden Perspektiven.
Einen weitgefaßten und zugleich intimen Blick wirft der Historiker Florian Huber auf das Kriegsende. Für Kind, versprich mir, daß du dich erschießt hat er insbesondere Tagebücher und Amtsunterlagen ausgewertet; es geht um die massenhaften Selbsttötungen der frisch »Befreiten«, die in den östlichen Reichsteilen ganze Dörfer dezimierten. Aufhänger ist das vorpommersche Demmin, am 30. April kampflos an die Rote Armee übergeben, wo infolge sofortiger sowjetischer Exzesse von Vergewaltigung bis Brandstiftung binnen weniger Tage um die 1000 Menschen Hand an sich legten.
Huber gibt erschütternde Zeugnisse wieder, die auch heute ans Innerste des Lesers rühren: »Mit dem Rauch kam eine Unzahl vergewaltigter Frauen, teilweise noch stark blutend, mit ein, zwei, drei, ja manchmal vier Kindern an der Hand in Trance, leeren Blickes die Jarmener Chaussee heraufgewankt. (…) Massenpsychose. Sie suchten also den Tod in den Fluten.« Mütter wateten ins niedrige Wasser von Tollense oder Peene und forderten die entsetzten Zuschauer auf, ihnen ihre Kinder hinterherzuwerfen, um sie dann mit »schierer Entschlossenheit« eigenhändig zu ertränken. Familienväter erschossen oder erhängten ihre Angehörigen und zuletzt sich selbst; ganze Hausgemeinschaften gingen so in den Tod. Tagelang schleppten die verbliebenen Einwohner Leichen aus dem Devener Holz.
Von der Mikroebene Demmins blendet Huber über auf das Gesamtreich, wo allerorten Bürger wochenlang »für den Fall« Gift in Beuteln um den Hals trugen. Erschießen, Erhängen, das Aufschneiden der Pulsadern waren so allgegenwärtig, daß das Tabu der Selbsttötung verschwand und Prediger sich genötigt sahen, gegen den schwarzen Strudel anzureden, der die Menschen aus dem Leben riß. Die zweite Hälfte des Buchs ist einer verdienstvollen Beschreibung des Seelenzustands der »Befreiten« gewidmet, deren ganzes Lebenskonzept zertrümmert lag und keine Zukunft mehr erhoffen ließ.
Inhaltlich also ist dieses Buch absolut lesenswert, auch wenn sich bei der Lektüre der Magen umdreht. Ärgerlich sind die diversen eingestreuten Schuldfloskeln, wonach etwa jedem Sowjetsoldaten »klar geworden [sei], daß die Deutschen aufgebrochen waren, um ihn entweder als Sklaven in ein Lager oder als Leiche in eine Grube zu werfen«, was die unzähligen Greueltaten an wehrlosen Zivilisten erkläre. Wer derlei Geschichtskotau verwinden kann, der muß Huber lesen – erst recht 70 Jahre nach der »Befreiung«.
Florian Hubers Kind, versprich mir, daß du dich erschießt kann man hier bestellen.