David Harvey: Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus

Eine Rezension von Gabriel Dassalo

David Har­vey: Sieb­zehn Wider­sprü­che und das Ende des Kapi­ta­lis­mus, Ber­lin: Ull­stein 2015. 373 S. 18.99 €

In vie­len Län­dern der Welt herr­schen immer noch die früh­ka­pi­ta­lis­ti­schen Zustän­de, die in Euro­pa ab Mit­te des 19. Jahr­hun­derts zur Ent­ste­hung einer kom­mu­nis­ti­schen Bewe­gung bei­tru­gen. In Chi­na schuf­ten in Bara­cken zusam­men­ge­sperr­te Arbeits­skla­ven in iPho­ne-Zulie­fer­fa­bri­ken bis zu 16 Stun­den am Tag, um für Welt­kon­zer­ne zu pro­du­zie­ren, und die Tex­til­pro­duk­ti­on in Ban­gla­desch erin­nert an die Zei­ten, die dem Schle­si­schen Weber­auf­stand vorausgingen.

Ange­sichts sol­cher Zustän­de ist ver­wun­der­lich, daß es zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts kei­ne kom­mu­nis­ti­sche Mas­sen­be­we­gung gibt, abge­se­hen von ver­spä­te­ten Stroh­feu­ern wie den nepa­le­si­schen Mao­is­ten und ihrem »revo­lu­tio­nä­ren Volks­krieg«. In der aka­de­mi­schen Welt hin­ge­gen sind neo­mar­xis­tisch inspi­rier­te Phi­lo­so­phie­en­ter­tai­ner wie Sla­voj Žižek hoch­ge­frag­te und ‑geehr­te Theo­rie­pro­du­zen­ten und ange­se­he­ne Gesell­schafts­kri­ti­ker. In die­se Kate­go­rie gehört auch der US-ame­ri­ka­nisch-bri­ti­sche Sozi­al­theo­re­ti­ker David Har­vey, der zahl­rei­che Ehren­dok­tor­ti­tel und Prei­se ein­ge­sam­melt und eine nun in deut­scher Über­set­zung vor­lie­gen­de Arbeit über Sieb­zehn Wider­sprü­che und das Ende des Kapi­ta­lis­mus ver­öf­fent­licht hat.

Ver­spro­chen wird dem Leser eine »fun­dier­te, rea­li­täts­na­he Kapi­ta­lis­mus­kri­tik und zugleich ein Mani­fest des Wan­dels«. Gelie­fert wird eine Ana­ly­se des Kapi­tals, die rela­tiv ortho­dox an Karl Marx ori­en­tiert ist, was Har­vey in sei­ner Ein­lei­tung auch ein­räumt. Wie in den Mas­sen­kur­sen, die die »Neue Lin­ke« und die K‑Gruppen unter dem Mot­to »Marx lesen« abhiel­ten, ruft auch Har­vey, der einen ähn­li­chen Video­kurs anbie­tet, Posi­tio­nen und Grund­be­grif­fe der Marx­schen Kapi­tal­ana­ly­se auf, vom Unter­schied zwi­schen Gebrauchs­wert und Tausch­wert über den Waren­fe­tisch bis hin zur »ursprüng­li­chen Akku­mu­la­ti­on«. Hier hat das Buch Stär­ken – wenn man denn über die holp­ri­ge Spra­che hin­weg­se­hen möch­te –, wie ja auch Marx selbst weni­ger als Schöp­fer einer deter­mi­nis­ti­schen Geschichts­theo­rie inter­es­sant ist, son­dern als Ana­ly­ti­ker his­to­ri­scher Ereig­nis­se und Empi­ri­ker der kapi­ta­lis­ti­schen Produktionsweise.

Har­vey zitiert das Heid­eg­ger­wort von der Natur, die durch das Her­auf­kom­men der Tech­nik zu einer »ein­zi­gen, rie­sen­haf­ten Tank­stel­le« wer­de – dies ist aber schon der ein­zi­ge Hin­weis dar­auf, daß Har­vey tat­säch­lich jener undog­ma­ti­sche Kopf sein könn­te, als der er aller­or­ten gefei­ert wird. Schon das Kapi­tel über »Geo­gra­phi­sche Ungleich­heit«, auf das man ange­sichts Har­veys Ruf als Begrün­der einer »Geo­po­li­tik des Kapi­ta­lis­mus« beson­ders gespannt ist, enttäuscht.

Har­vey beläßt es dabei, den kapi­ta­lis­ti­schen Ver­wer­tungs­pro­zeß als eine Art Dämon anzu­se­hen, der in ver­schie­de­ne Städ­te und Regio­nen fährt, dort erst zu ver­stärk­ter Kapi­tal­ak­ku­mu­la­ti­on führt, um dann die­se Orte, wenn die Kapi­tal­strö­me sich auf neue Ren­di­te­mög­lich­kei­ten hin­zu­be­we­gen, als skl­ero­ti­sche Indus­trie­rui­nen wie­der auszuspucken.

Das könn­te die Basis einer frucht­ba­ren Theo­rie sein, aber Har­vey unter­läßt es, sei­nen Grund­ge­dan­ken aus­zu­dif­fe­ren­zie­ren und an kon­kre­ten Bei­spie­len zu erläu­tern, wie es bei­spiels­wei­se der deut­sche Wirt­schafts­his­to­ri­ker Wer­ner Abels­hau­ser in sei­nen Arbei­ten über die Ent­wick­lung his­to­risch gewach­se­ner regio­na­ler Ver­bund­sys­te­me macht. Am Ende sei­nes Buchs stellt Har­vey die Alter­na­ti­ve seines»revolutionären Huma­nis­mus« vor, der »Aus­sich­ten auf eine glück­li­che Zukunft« verheißt.

Damit kei­ne Irri­ta­tio­nen auf­kom­men, was gemeint sein könn­te, gibt sich Har­vey als Befür­wor­ter der Gewalt­theo­rie des fran­zö­si­schen Ent­ko­lo­nia­li­sie­rungs­theo­re­ti­kers Frantz Fanon zu erken­nen, der in sei­nen Büchern den Kolo­ni­sier­ten beschwor, der erst durch das Ein­tau­chen sei­ner Hän­de in das von ihm ver­gos­se­ne Blut »wahr­haft zum Men­schen wur­de«, Mas­sa­ker an Frau­en und Kin­dern inbe­grif­fen. »Auf die Fra­ge der Gewalt gehe ich hier nicht ein, weil ich sie gut­hei­ßen wür­de«, schluß­fol­gert Harvey.

In sei­nen »Ideen für die poli­ti­sche Pra­xis« prä­sen­tiert Har­vey dann Gas­sen­hau­er wie die Auf­he­bung aller »Ungleich­hei­ten der mate­ri­el­len Ver­sor­gung« und die Ver­ur­tei­lung der »Aneig­nung gesell­schaft­li­cher Macht durch Pri­vat­per­so­nen« als»krankhafte Ver­hal­tens­stö­rung«. Es ist auf schau­ri­ge Wei­se fas­zi­nie­rend, wie Salon­lin­ke vom Schla­ge Har­veys ihre blitz­blank polier­te Welt­an­schau­ung durch alle Kata­stro­phen der Geschich­te immer noch als Mons­tranz vor sich her­tra­gen kön­nen, ohne vom lei­ses­ten Zwei­fel befal­len zu werden.

David Har­veys Sieb­zehn Wider­sprü­che und das Ende des Kapi­ta­lis­mus kann man hier bestel­len.

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