Diese Warnung vor einer »Pädagogik auf Augenhöhe« erreicht uns aus Schweden, dem Land des pädagogischen Liberalismus. Wer denkt, in Deutschland spitze sich ein Erziehungsnotstand zu, sollte wissen: Der Abstand, der hinsichtlich Laisser-faire (und einhergehender Problematiken) zwischen Deutschland und Schweden klafft, ist ähnlich groß wie die Spanne, die zwischen dem hiesigen Erziehungsstil der sechziger Jahre und dem gegenwärtigen liegt. Wer hierzulande vom »Nanny-Staat« spricht, kennt nicht das schwedische System. Die Grundschule in Schweden dauert neun Jahre, erst ab Klasse acht werden (einige) Noten vergeben, in den Abschlußklassen allerdings nur positive. Chemieunterricht endet in Klasse neun, Physik gibt es gar nicht – das bescheidene Abschneiden von Schweden in den PISA-Tests spricht Bände. Einen Blick in mentale Zustände erhält, wer aktuelle schwedische Jugendbücher studiert.
Daher mag der smart wirkende Psychiater David Eberhard in seiner Heimat als Mister Streng gelten, hier muß er sich in der (verkaufsträchtigen) Liga der Freunde des Grenzensetzens in die unteren Ränge einordnen. Eberhard beklagt das definitiv Beklagenswerte: Daß Schulkinder im Bus nicht mehr für Ältere aufstehen. Daß es einen unausgesprochenen Wettbewerb um den coolsten Vater und das kumpelhafteste Eltern-Kind-Verhältnis gibt. Daß dem Kind alles weichgespült und vorgekaut wird. Daß erziehungstechnisch zuviel geschimpft, aber zuwenig gehandelt wird. Daß Kinder heute (er bezieht das auch auf die hohe ADHS-Rate) zuwenig Schlaf haben.
Im Kern warnt Eberhard davor, die Kinder in Watte zu packen. Er findet, die Eltern-Kind-Bindung werde überschätzt, und gleichzeitig werde den Kindern zuviel »Augenhöhe« zugestanden.
Einerseits vertritt Eberhard keine auch nur ansatzweise radikalen Thesen. Andererseits spitzt er am laufenden Band ungebührlich zu, um möglichst krasse, entlegene Beispiele einer fehlgeleiteten Pädagogik zu präsentieren. Um zu belegen, daß bereits Schwangere mit übertriebenen Verhaltensrichtlinien traktiert würden, bemüht er eine »Bekannte«, die sich am besten die gesamten neun Monate »nicht bewegen« sollte. Er spricht von einer »Stillmafia«, die Eltern eintrichtere, schon ein einziger Tropfen Ersatzmilch berge Lebensgefahr, und von Bindungstheoretikern, die eine siebenjährige Stillzeit einforderten. Als abschreckende Beispiele für erzieherische Liberalität bemüht er Dreijährige, die über Urlaubsziele entscheiden und Zweijährige, die über Gewaltpotentiale im Nahen Osten mitreden dürfen. Ein heute sechzehnjähriger Sohn wäre nach Eberhard vor hundert Jahren bereits Vater gewesen. Geht’s eine Nummer kleiner?, fragt man sich Seite um Seite. Hätten nicht simplere Alltagsbeispiele ausgereicht?
Wäre ein Extrakt des Buchs auf einer einzigen Zeitungsseite erschienen – man hätte es als Anstoß begriffen. So aber liest man sich durch Redundanzen, breit geschilderte Fallbeispiele, Familienanekdoten, ein gewisses Durcheinander und eine nicht immer vortreffliche Übersetzung. Oder liegt es am Original? Jedenfalls stolpert der Leser über Stilblüten zuhauf, etwa, wenn es um Schüler geht, die bei »grundlegenden Themen wie Bildung und Allgemeinwissen nicht mithalten können.«
Eberhard ist erkennbar stolz, jung Vater geworden zu sein. Er hat sechs Kinder. In der Tat mag vieles für frühe Elternschaft sprechen. Aber ersetzt es ein Argument, daß späte Eltern »zu alt« seien,»um zu riskieren, daß ihrem lang ersehnten Sprößling etwas zustößt«? Vermutlich wollen sogar junge Eltern solches »Zustoßen« verhindern.
Eberhard rät, daß man Hinweise nur von Profis annehmen solle, die bestens mit Hirnforschung vertraut seien. Wenige Seiten später beklagt er, daß die Ratschläge der Großelterngeneration nichts mehr gälten. Widersprüchlich ist auch, daß Eberhard betont (in Anlehnung an Judith Rich Harris’ Besteller Ist Erziehung sinnlos? ), daß elterliche Anstrengungen wenig vermögen – um demgegenüber zu verdeutlichen, wie wichtig klare pädagogische Grundsätze seien. Unterm Strich bleiben Erkenntnisse, daß ein elektrofreier Tag ein »sehr positives Gefühl« vermitteln könne, daß man das Kind loben dürfe, aber nicht übertrieben stark, und summa summarum, daß es keine »perfekten Eltern« gebe. Ein Paläo-Buch mit einem Neo-Titel, gewissermaßen.
Kinder an der Macht. Die monströsen Auswüchse liberaler Erziehung von David Eberhard kann man hier bestellen.