Dem Bundesdeutschen des Jahres 2015 muß unglaublich erscheinen, daß so viel Hingabe an eine »Sache« möglich ist, die keinerlei Vergnügen und keinerlei »Mehrwert« verspricht. Doch genau das zieht sich durch die Lebensgeschichte der Eltern des ehemaligen DDR-Diplomaten Andrej Reder. Sein Vater, Gabriel Lewin, zählte zu den knapp 70 Prozent der in die Sowjetunion exilierten deutschen Kommunisten, die dort im Zuge der Großen Säuberungen ab 1935/36 verhaftet wurden. Lewin überlebte, im Gegensatz zu vielen anderen, und hielt am kommunistischen Ideal fest, wie in den Briefen, russischen Archivmaterialien und Dokumenten, die Reder zu einer Lebensgeschichte seiner Eltern verdichtete, unverkennbar wird.
Lewin ist wie seine Frau Hertha Kommunist und säkularer Jude, beide kämpfen in der KPD und deren Jugendverband. Nach 1933 beordert sie die Partei über Zwischenstationen in die Sowjetunion. 1938 – Sohn Andrej ist zwei – beginnt die von Lewin als »Dienstreise« bezeichnete Höllenfahrt. Ein »Sonderschnelltribunal« verurteilt Lewin zu zehn Jahren Arbeitslager in Sibirien. Obwohl die Gestapo nach ihm fahndet, konstruiert die Anklage »Spionage für Deutschland« und»konterrevolutionäre Tätigkeiten«, mutmaßlich infolge einer Lewin diffamierenden Aussage Walter Ulbrichts.
Es liegt im kommunistischen Bekenntnis des Verhafteten begründet, daß er auch nach Jahren des Leidens nicht begreifen möchte, daß es sich nicht um ein »Fehlurteil« handelte. In Eingaben an die deutsche KP-Parteiführung und sowjetische Stellen, die Reder dokumentiert, wird die unerschütterliche Loyalität zur Partei und ihren Verfolgungsbehörden überdeutlich. Der Begeisterung für die kommunistische Idee kann keine Lagerhaft, keine erneute Verurteilung (1949) auf Basis der alten Anklage, keine Widerwärtigkeit etwas anhaben.
1955, im Zuge der vorsichtigen Entstalinisierung, wird Lewin entlassen und kann zu Frau und Sohn reisen, die seit sieben Jahren in der DDR leben; trotz 17 Jahren Trennung (Hertha verbrachte mit Andrej die längste Zeit in der kasachischen Verbannung) hielten die Eltern aneinander fest.
Keine Frage: Die Familie blieb eine kommunistische, eiferte für den Aufbau des – diesmal – »echten« Sozialismus und sah in den stalinistischen Exzessen lediglich die Perversion einer grundsätzlich humanitären Ideologie. Das wird im allzu ausführlich geratenen Nachwort Reders überdeutlich, der sich mit Nachdruck gegen antikommunistische Deutungen des kommunistischen Terrors in der Sowjetunion und anderswo verwahrt, den gedachten Sozialismus von seinen realen Untaten scheiden möchte, den zeitgenössischen Kapitalismus (mit guten Argumenten) attackiert und die heutige Linke gar für ihre Distanzierung vom stalinistischen Massenterror (Reder: »Repressalien«) tadelt.
Fraglich, ob der beeindruckenden und nahegehenden Schilderung der »Dienstreise« ein derartiger Epilog beigefügt werden mußte. Vielleicht ist es aber die Konsequenz aus der so leidenschaftlichen Hingabe an die »Sache«. Wie seine Eltern leidet der Autor daran, daß der realexistierende Kommunismus der Utopie des Kommunismus den bleibenden Makel des Massenmordes angehängt hat.
Die dokumentierte Stärke der elterlichen Gesinnung sowie die gezeigte menschliche Größe trotz Lagerhaft und Willkür sind dessenungeachtet bemerkenswert. Das Buch kann somit als Gegenstück zu Sergej Locht-hofens brillanter Verarbeitung der ganz ähnlichen Leidensgeschichte seines Vaters (Schwarzes Eis, Reinbek bei Hamburg 2012) gelesen werden. Gegenstück: Denn Reder und Locht-hofen ziehen vollkommen andere Rückschlüsse. Letzterer stellt fest, daß »der wahre Weg ins Paradies der Werktätigen von Stacheldraht gesäumt wird«, während Reder weiterhin in der »Loyalitätsfalle des Antifaschismus« (Wolfgang Emmerich) gefangen bleibt.
Andrej Reders Dienstreise kann man hier bestellen