Robert Kindler: Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan, Hamburg: Hamburger Edition 2014. 381 S., 28 €
Die Hungerkatastrophe in der kasachischen Steppe ist unter den kommunistischen Massenmorden einer der monströsesten und am wenigsten bekannten. Anders als im Fall des im internationalen Gedächtnis präsenteren »Holodomor«, des stalinistischen »Hunger-Holocaust« in der Ukraine, war das Millionensterben der zwangskollektivierten kasachischen Nomaden Anfang der dreißiger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts weniger ein geplanter als ein achselzuckend als Folge der brutalen Durchsetzung von Ideologie und Herrschaft der Sowjetmacht hingenommener Völkermord.
Die Dimensionen übertreffen die der zeitgleichen Hungersnöte in der Ukraine, dem Kaukasus und der Wolgaregion gleichwohl bei weitem. Der große Hunger kostete zwischen 1930 und 1934 mehr als eineinhalb Millionen Menschen das Leben – ein Drittel des kasachischen Volkes. Hunderttausende wurden zu Bettlern oder Banditen oder flüchteten in andere Regionen der Sowjetunion und ins benachbarte China. Nur im Kambod-scha der Roten Khmer hat der kommunistische Massenmord einen vergleichbar großen Teil des eigenen Volkes ausgelöscht.
Dem Berliner Osteuropahistoriker Robert Kindler kommt das Verdienst zu, diesen vergessenen Völkermord in einer fundierten und gut geschriebenen Monographie dem deutschen Publikum zu erschließen. Er beschreibt Kasachstan als Ort, an dem sich der Kern stalinistischer Herrschaft erkennen läßt: die systematische Zerstörung und Neuformierung überkommener Gesellschafts‑, Wirtschafts- und Bevölkerungsstrukturen, um totale Herrschaft und Kontrolle bis in den letzten Winkel durchzusetzen. Selbst horrende Menschenverluste werden dabei nicht nur ungerührt in Kauf genommen, sondern als notwendige »revolutionäre« Begleiterscheinung sogar begrüßt.
Kindler bezeichnet das als »Sowjetisierung durch Hunger«. Um die Sowjetmacht zu etablieren, mußten sowohl die europäischen und kosakischen Bauern in den Randgebieten als auch die nomadischen Kasachen in den Weiten des Landesinneren zwangskollektiviert, »entkulakisiert« und seßhaft gemacht werden. Die Wegnahme ihres Viehs, das zu Millionen verendete, beraubte die Nomaden der Existenzgrundlage und ließ die »Ökonomie der Steppe« in wenigen Jahren zusammenbrechen. Tote und Verhungernde säumten die Straßen, Waisenkinder irrten zu Tausenden durchs Land und gingen in Lagern zugrunde, es kam zu Kannibalismus und Menschenjagd, zahlreiche Aufstände wurden militärisch niedergeschlagen. Ein Teil der Überlebenden und zurückgeführten Flüchtlinge wurde schließlich in Geisterkolchosen angesiedelt. Die Viehbestände waren um neunzig Prozent dezimiert.
Die Katastrophe, die Kindler faktenreich und unter Auswertung gedruckter und ungedruckter Quellen aus russischen und kasachischen Archiven schildert, prägt die kasachische Nation bis heute. Die multiethnische Bevölkerung des Landes mit ihren über 50 Nationen und Nationalitäten, deren einträchtiges Nebeneinander – bei einer Bevölkerungsdichte von sechs Einwohnern pro Quadratkilometer – in offiziellen Verlautbarungen gern hervorgehoben wird, ist tatsächlich »in vielerlei Hinsicht ein Produkt des Terrors«. Die Überlebenden der Hungerkatastrophe und der späteren stalinistischen Säuberungen haben in ihr mit den Opfern der Massendeportationen zusammengefunden. Um des Friedens mit Rußland willen spielt die Aufarbeitung des großen Hungers im unabhängigen Kasachstan bis heute nur eine untergeordnete Rolle.
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