In Nordamerika gibt es einen Sperlingsvogel, der auf seinen Wanderungen zwischen Alaska und Mexiko sieben Tage lang wach bleiben kann; in den Neunzigern gab es Pläne, ganze Stadtregionen aus dem All mittels riesiger Sonnenspiegel nachts auszuleuchten; Schlafentzug als Folter wurde bereits durch Stalins NKWD planmäßig eingesetzt und hat jüngst durch US-Dienste eine weitere Verfeinerung erfahren.
Jonathan Crary, Professor für Kunsttheorie in New York, führt diese drei Beispiele zu Beginn seines Essays 24/7an, um die Dimension seines Themas auszumessen: Es gibt trotz aller Bemühungen der kapitalistischen Krake weiterhin nichtvernutzbare Refugien. Irgendwann erlöschen Aufmerksamkeit und Konsumbereitschaft in jedem Menschen, und zwar ziemlich zuverlässig nach einem langen Tag voller Arbeit, Konsum, Kommunikation, Erreichbarkeit und Reizflut. Der einzelne kommt in diesen Wellentälern der Präsenz, in diesen Phasen der Ungestörtheit zu sich selbst. Diese Gliederung des Tages und der Woche bringt ihn von ganz alleine auf Gedanken jenseits einer Einpassung in den unausgesetzten Daten‑, Arbeits- und Güterstrom.
Crary beschreibt die Homogenisierung der Zeit aus der gleichmacherischen Grundtendenz des Kapitalismus heraus, der bisher an einem der letzten Naturhindernisse scheitere: am Schlaf. Dessen Dauer und Ungestörtheit nehme zwar seit 150 Jahren kontinuierlich ab, aber beseitigt oder beherrscht werden könne er nicht. Es ist also Folge der Vernutzungslogik, wenn man den Sperling untersucht, um zu erfahren, was ihn wach hält; wenn man mit künstlichem Licht experimentiert, um eine Stadt zu schaffen, die niemals schläft; und wenn man jene um den Schlaf bringt, denen man ihr völliges Ausgeliefertsein demonstrieren möchte.
Im Kern geht Crarys marxistisch aufgeladene Kritik nicht über das hinaus, was F. G. Jünger in der Perfektion der Technik oder Konrad Lorenz in den Sieben Todsünden der zivilisierten Menschheit bereits ausgeführt haben. Es ist heute eben alles in einem Maß extrem geworden, das Jünger und Lorenz theoretisch beschreiben konnten, praktisch aber wohl nicht für möglich gehalten hätten: Wir leben in einem »Nonstopbetrieb von Konsum, sozialer Isolation und politischer Ohnmacht«, in den sich der einzelne freiwillig eingliedere, um nichts zu verpassen. Selbst intelligente Leute halten es mittlerweile für völlig normal, während eines Gesprächs oder einer Mahlzeit eingehende SMS zu checken oder den Anrufer stets dem Anwesenden vorzuziehen. Crary wendet das gesellschaftskritisch und sieht die »Paradoxie eines öffentlichen und privaten Lebens, das durch ein unvorstellbares Ausmaß an Aktivität vibriert, während all diese ruhelose Geschäftigkeit und Betriebsamkeit einem faktischen Stillstand dient: der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse.«
Wie gegensteuern? Crary findet nur Beispiele privater Attacken auf das Eigentum, nennt Kommune-Ideen, Gemeinschaftsgärten und allerlei Ausstiege. Aber natürlich kommt er von seinem Standpunkt aus nicht auf Tradition oder Religiosität als Widerpart zur gleichförmigen Zeit der 24/7-Welt. Und dennoch steckt in seinem Buch eine Erklärung für den Umstand, daß man oft mit jenen Linken einen gemeinsamen Nenner hat, die den Anforderungen des Spätkapitalismus nicht mehr entsprechen wollen. Denn dieser ist nichts anderes als eine Generalattacke auf alles, was der eine mit »solidarisch«, der andere mit »Gemeinschaft« beschreibt.
Jonathan Crarys 24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus kann man hier bestellen.