Keith Lowe: Der wilde Kontinent

Keith Lowe: Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950, Stuttgart: Klett-Cotta 2014. 526 S., 26.95 €

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Von einer Stun­de Null ist nichts zu hal­ten, jeden­falls von jener nicht, die am 8. Mai 1945 ange­bro­chen sein soll. Wann war der Zwei­te Welt­krieg in Euro­pa zu Ende? Als Deutsch­land kapi­tu­lier­te? Kaum ein Sude­ten­deut­scher wür­de das bestä­ti­gen, als er Mona­te danach aus sei­nem Haus geprü­gelt und auf einen Todes­marsch geschickt wur­de, und kaum einer jener Sol­da­ten, die auf den Rhein­wie­sen hun­ger­ten und ver­reck­ten. Kein Spät­heim­keh­rer aus Sibi­ri­en, kei­ne kahl­ge­scho­re­ne Kol­la­bo­ra­teu­rin aus Frank­reich, kein Litau­er oder Rumä­ne, der den Kampf gegen die sowje­ti­sche Okku­pa­ti­on sei­nes Lan­des auf­nahm, und schließ­lich auch kei­ne Frau, deren Kin­der noch im Win­ter 1947 in den Rui­nen einer zer­bomb­ten Stadt erfro­ren oder verhungerten.

»Die Geschich­te Euro­pas in den ers­ten Nach­kriegs­jah­ren war daher nicht in ers­ter Linie eine des Wie­der­auf­baus«, schreibt der 1970 gebo­re­ne His­to­ri­ker Keith Lowe in sei­nem Buch: »Zunächst war es eine Geschich­te des Abstiegs in die Anar­chie.« Lowe beginnt mit einer Bestands­auf­nah­me des­sen, was in den letz­ten Kriegs­jah­ren zer­stört wur­de, und stellt neben die ding­li­che Welt die Zer­schla­gung jeder Hoff­nung auf Bes­se­rung und die Zer­rüt­tung der Moral, die Men­schen­lee­re und den alles beherr­schen­den, jeden zer­mür­ben­den Hunger.

Er spart in der Schil­de­rung der unmit­tel­ba­ren Nach­kriegs­zeit nicht die Rache aus, der vor allem die Deut­schen anheim­fie­len, nicht die eth­ni­schen Säu­be­run­gen, deren Opfer zuerst die Juden und man­che Ost­völ­ker, dann die Deut­schen und die Min­der­hei­ten hin­ter neu­ge­zo­ge­nen Gren­zen waren, und kommt schließ­lich zur tat­säch­li­chen Fort­set­zung der Waf­fen­gän­ge in den Bür­ger­kriegs­ge­bie­ten und den sowje­tisch besetz­ten Gebie­ten, jenen »Krie­gen in Krie­gen«, die den Front­ver­lauf ver­wor­ren und das Kriegs­en­de so lang­ge­dehnt machten.

Lowes Arbeit ist für deut­sche Leser zwei­er­lei: Zum einen ist sie ein Lehr­stück in unauf­ge­reg­ter Rela­ti­vie­rung des­sen, was uns als das abso­lut Böse gilt – das Ver­bre­cher­re­gime Hit­lers. Mil­lio­nen Deut­sche ver­lo­ren »mit­ten im Frie­den« ihr Leben, fast alle waren völ­lig wehr­los. Zum ande­ren wird deut­lich, war­um fixe Daten Set­zun­gen des­sen sein kön­nen, der etwas ver­tu­schen will: Es ist bis heu­te den beson­ders erfolg­reich umer­zo­ge­nen deut­schen Poli­ti­kern nicht klar, war­um ein est­ni­scher oder rumä­ni­scher, unga­ri­scher oder fin­ni­scher Poli­ti­ker den 8. Mai nicht an der Sei­te der Rus­sen und Ame­ri­ka­ner als einen Tag der Befrei­ung oder als tol­le Stun­de Null bege­hen möch­te, son­dern einen Tag aus dem Jah­re 1990 für das ange­mes­se­ne Datum hält. Noch um 1960 wäre es – schon aus eige­nem Erle­ben her­aus – kei­nem Deut­schen ein­ge­fal­len, hin­ter der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­ti­on das Ende allen Leids zu vermuten.

Der wil­de Kon­ti­nent. Euro­pa in den Jah­ren der Anar­chie 1943–1950 von Keith Lowe kann man hier bestel­len.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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