Von einer Stunde Null ist nichts zu halten, jedenfalls von jener nicht, die am 8. Mai 1945 angebrochen sein soll. Wann war der Zweite Weltkrieg in Europa zu Ende? Als Deutschland kapitulierte? Kaum ein Sudetendeutscher würde das bestätigen, als er Monate danach aus seinem Haus geprügelt und auf einen Todesmarsch geschickt wurde, und kaum einer jener Soldaten, die auf den Rheinwiesen hungerten und verreckten. Kein Spätheimkehrer aus Sibirien, keine kahlgeschorene Kollaborateurin aus Frankreich, kein Litauer oder Rumäne, der den Kampf gegen die sowjetische Okkupation seines Landes aufnahm, und schließlich auch keine Frau, deren Kinder noch im Winter 1947 in den Ruinen einer zerbombten Stadt erfroren oder verhungerten.
»Die Geschichte Europas in den ersten Nachkriegsjahren war daher nicht in erster Linie eine des Wiederaufbaus«, schreibt der 1970 geborene Historiker Keith Lowe in seinem Buch: »Zunächst war es eine Geschichte des Abstiegs in die Anarchie.« Lowe beginnt mit einer Bestandsaufnahme dessen, was in den letzten Kriegsjahren zerstört wurde, und stellt neben die dingliche Welt die Zerschlagung jeder Hoffnung auf Besserung und die Zerrüttung der Moral, die Menschenleere und den alles beherrschenden, jeden zermürbenden Hunger.
Er spart in der Schilderung der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht die Rache aus, der vor allem die Deutschen anheimfielen, nicht die ethnischen Säuberungen, deren Opfer zuerst die Juden und manche Ostvölker, dann die Deutschen und die Minderheiten hinter neugezogenen Grenzen waren, und kommt schließlich zur tatsächlichen Fortsetzung der Waffengänge in den Bürgerkriegsgebieten und den sowjetisch besetzten Gebieten, jenen »Kriegen in Kriegen«, die den Frontverlauf verworren und das Kriegsende so langgedehnt machten.
Lowes Arbeit ist für deutsche Leser zweierlei: Zum einen ist sie ein Lehrstück in unaufgeregter Relativierung dessen, was uns als das absolut Böse gilt – das Verbrecherregime Hitlers. Millionen Deutsche verloren »mitten im Frieden« ihr Leben, fast alle waren völlig wehrlos. Zum anderen wird deutlich, warum fixe Daten Setzungen dessen sein können, der etwas vertuschen will: Es ist bis heute den besonders erfolgreich umerzogenen deutschen Politikern nicht klar, warum ein estnischer oder rumänischer, ungarischer oder finnischer Politiker den 8. Mai nicht an der Seite der Russen und Amerikaner als einen Tag der Befreiung oder als tolle Stunde Null begehen möchte, sondern einen Tag aus dem Jahre 1990 für das angemessene Datum hält. Noch um 1960 wäre es – schon aus eigenem Erleben heraus – keinem Deutschen eingefallen, hinter der bedingungslosen Kapitulation das Ende allen Leids zu vermuten.
Der wilde Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943–1950 von Keith Lowe kann man hier bestellen.