Jean-Claude Michéa: Das Reich des kleineren Übels

Jean-Claude Michéa: Das Reich des kleineren ÜbelsBerlin: Matthes & Seitz 2014. 191 S., 19.90 €

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Nicht nur in Deutsch­land geriert sich die radi­ka­le Lin­ke als mili­tan­ter Arm des eta­blier­ten Links­li­be­ra­lis­mus. Doch wäh­rend sich hier­zu­lan­de kein lin­ker Theo­re­ti­ker – der 2014 ver­stor­be­ne Wer­ner Pir­ker aus­ge­nom­men – ob die­ser Mes­al­li­ance grämt, lei­det in Frank­reich Jean-Clau­de Michéa spür­bar an ihr. Vor allem die Wei­ge­rung lin­ker Akti­vis­ten, sich ein­zu­ge­ste­hen, daß eine tief­grei­fen­de Ein­heit des poli­ti­schen, öko­no­mi­schen und gesell­schaft­li­chen Libe­ra­lis­mus nicht zu bestrei­ten ist und es aus die­sem Grund unhalt­bar erscheint, den einen Libe­ra­lis­mus abzu­leh­nen und den ande­ren zu befür­wor­ten (was im übri­gen auch für die rech­te Geis­tes­welt zutref­fe), ver­är­gert den poli­ti­schen Philosophen.

Mit Ver­weis auf die prä­mar­xis­ti­schen Sozia­lis­ten will Michéa die kri­tik­lo­se Adap­ti­on libe­ra­len Fort­schritts­den­kens durch lin­ke Strö­mun­gen über­win­den. Sei­ne dar­auf auf­bau­en­de Fun­da­men­tal­kri­tik der Ent­wick­lungs­strän­ge des Libe­ra­lis­mus und der poli­ti­schen Lin­ken (die bis­wei­len aller­dings in name drop­ping aus­ufert) erstreckt sich über die letz­ten Jahr­hun­der­te und trifft Trotz­kis­ten wie Kom­mu­nis­ten, Radi­kal­so­zia­lis­ten wie post­mo­der­ne Anti­fa­schis­ten. Sie macht auch vor undog­ma­ti­schen 68ern nicht halt. Deren Stre­ben nach Befrei­ung von Sit­ten, Anstand und Moral habe der heu­te längst voll­zo­ge­nen Kon­ver­si­on gan­zer lin­ker Strö­mun­gen zum hedo­nis­ti­schen Kon­su­mis­mus west­li­cher Prä­gung voll­ends Tür und Tor geöff­net. Die­se Beja­hung des »Reich des klei­ne­ren Übels« – also der libe­ra­len Welt­ord­nung an sich – kor­re­lie­re mit der Abwen­dung vom Volk als Bezugsgröße.

Was Michéa in die­sem 2007 in Frank­reich ver­leg­ten Essay ein­for­dert, ist die Befrei­ung der (radi­ka­len) Lin­ken vom indi­vi­dua­lis­ti­schen libe­ra­len Geist. Sein Ide­al ist ein eman­zi­pa­to­ri­scher – nicht pejo­ra­tiv zu begrei­fen­der – »Popu­lis­mus«, der sich an einem wer­te­ge­bun­de­nen »ursprüng­li­chen Sozia­lis­mus« ori­en­tiert, des­sen Grund­ma­xi­men »Moral« und»Gemeinschaft« bedeu­ten und dem der Abschied von Wachs­tums­ideo­lo­gie und One-World-Stre­ben inne­wohnt. Das klingt in wei­ten Tei­len nach den kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Sen­ten­zen Alain de Benoists.

Tat­säch­lich zeigt sich Benoist von Michéa begeis­tert. In sei­nen auto­bio­gra­phi­schen Gesprä­chen (Mein Leben, Ber­lin 2014, vgl. Sezes­si­on 63) lobt er den lin­ken Quer­den­ker als »Aus­nah­me­men­schen«, des­sen Wer­ke »zum Bes­ten zäh­len, was in den letz­ten Jah­ren ver­öf­fent­licht wur­de.« Die­se Elo­ge bezieht sich nicht nur auf die vor­lie­gen­de Arbeit, son­dern des­glei­chen auf Miché­as Orwell-Exege­se, die ins­be­son­de­re den kon­ser­va­ti­ven Impe­tus des Tota­li­ta­ris­mus­kri­ti­kers akzen­tu­iert. Sie bezieht sich fer­ner auf Miché­as Ana­ly­sen »lin­ker Mys­te­ri­en« und den Sün­den­fall lin­ker Poli­tik: die voll­zo­ge­ne Ent­frem­dung vom »klei­nen Mann«.

Miché­as sozia­lis­ti­scher Anti­li­be­ra­lis­mus stößt in der hete­ro­ge­nen fran­zö­si­schen Lin­ken auf wenig posi­ti­ven Wider­hall. Er wird dafür um so mehr von Benoist sowie von links­na­tio­na­lis­ti­schen Krei­sen um die Zeit­schrift Rébel­li­on und um Alain Sorals Ver­ei­ni­gung »Éga­li­té & Récon­ci­lia­ti­on« geprie­sen. Nach Lek­tü­re die­ses Ban­des ver­wun­dert die­ser Sach­ver­halt nicht.

Das Reich des klei­ne­ren Übels von Jean-Clau­de Michéa kann man hier bestel­len.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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