Nicht nur in Deutschland geriert sich die radikale Linke als militanter Arm des etablierten Linksliberalismus. Doch während sich hierzulande kein linker Theoretiker – der 2014 verstorbene Werner Pirker ausgenommen – ob dieser Mesalliance grämt, leidet in Frankreich Jean-Claude Michéa spürbar an ihr. Vor allem die Weigerung linker Aktivisten, sich einzugestehen, daß eine tiefgreifende Einheit des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Liberalismus nicht zu bestreiten ist und es aus diesem Grund unhaltbar erscheint, den einen Liberalismus abzulehnen und den anderen zu befürworten (was im übrigen auch für die rechte Geisteswelt zutreffe), verärgert den politischen Philosophen.
Mit Verweis auf die prämarxistischen Sozialisten will Michéa die kritiklose Adaption liberalen Fortschrittsdenkens durch linke Strömungen überwinden. Seine darauf aufbauende Fundamentalkritik der Entwicklungsstränge des Liberalismus und der politischen Linken (die bisweilen allerdings in name dropping ausufert) erstreckt sich über die letzten Jahrhunderte und trifft Trotzkisten wie Kommunisten, Radikalsozialisten wie postmoderne Antifaschisten. Sie macht auch vor undogmatischen 68ern nicht halt. Deren Streben nach Befreiung von Sitten, Anstand und Moral habe der heute längst vollzogenen Konversion ganzer linker Strömungen zum hedonistischen Konsumismus westlicher Prägung vollends Tür und Tor geöffnet. Diese Bejahung des »Reich des kleineren Übels« – also der liberalen Weltordnung an sich – korreliere mit der Abwendung vom Volk als Bezugsgröße.
Was Michéa in diesem 2007 in Frankreich verlegten Essay einfordert, ist die Befreiung der (radikalen) Linken vom individualistischen liberalen Geist. Sein Ideal ist ein emanzipatorischer – nicht pejorativ zu begreifender – »Populismus«, der sich an einem wertegebundenen »ursprünglichen Sozialismus« orientiert, dessen Grundmaximen »Moral« und»Gemeinschaft« bedeuten und dem der Abschied von Wachstumsideologie und One-World-Streben innewohnt. Das klingt in weiten Teilen nach den kapitalismuskritischen Sentenzen Alain de Benoists.
Tatsächlich zeigt sich Benoist von Michéa begeistert. In seinen autobiographischen Gesprächen (Mein Leben, Berlin 2014, vgl. Sezession 63) lobt er den linken Querdenker als »Ausnahmemenschen«, dessen Werke »zum Besten zählen, was in den letzten Jahren veröffentlicht wurde.« Diese Eloge bezieht sich nicht nur auf die vorliegende Arbeit, sondern desgleichen auf Michéas Orwell-Exegese, die insbesondere den konservativen Impetus des Totalitarismuskritikers akzentuiert. Sie bezieht sich ferner auf Michéas Analysen »linker Mysterien« und den Sündenfall linker Politik: die vollzogene Entfremdung vom »kleinen Mann«.
Michéas sozialistischer Antiliberalismus stößt in der heterogenen französischen Linken auf wenig positiven Widerhall. Er wird dafür um so mehr von Benoist sowie von linksnationalistischen Kreisen um die Zeitschrift Rébellion und um Alain Sorals Vereinigung »Égalité & Réconciliation« gepriesen. Nach Lektüre dieses Bandes verwundert dieser Sachverhalt nicht.
Das Reich des kleineren Übels von Jean-Claude Michéa kann man hier bestellen.