Karl Schlögel/Karl-Konrad Tschäpe (Hrsg.): Die Russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden

Eine Rezension von Johannes Rogalla von Bieberstein

Karl Schlö­gel/­Karl-Kon­rad Tsch­ä­pe (Hrsg.): Die Rus­si­sche Revo­lu­ti­on und das Schick­sal der rus­si­schen Juden. Eine Debat­te in Ber­lin 1922/23, Ber­lin: Matthes & Seitz 2014. 762 S., 49.90 €

Der volu­mi­nö­se Band Die Rus­si­sche Revo­lu­ti­on und das Schick­sal der rus­si­schen Juden ist eine anspruchs­vol­le Sen­sa­ti­on. Der eme­ri­tier­te Ruß­land-Exper­te der Via­dri­na-Uni­ver­si­tät Frankfurt/Oder, Karl Schlö­gel, der sich bereits 2007 mit Das rus­si­sche Ber­lin. Ost­bahn­hof Euro­pas als gut zu lesen­der klas­si­scher Gelehr­ter aus­ge­wie­sen hat, legt eine aus­führ­lich ein­ge­lei­te­te Aus­ga­be von Schrif­ten aus dem Ber­li­ner jüdisch-rus­si­schen Exil der Jah­re 1922/23 vor. Die­se sind teil­wei­se erst­mals über­setzt oder als Raris­si­ma nicht ohne wei­te­res zu beschaffen.

Es han­delt sich dabei um Dis­kus­si­ons­bei­trä­ge, die von Mit­glie­dern des 1923 in Ber­lin gegrün­de­ten »Vater­län­di­schen Ver­ban­des rus­si­scher Juden im Aus­land« wäh­rend des Ruß­land ver­hee­ren­den Bür­ger­krie­ges mit inne­rer Anteil­nah­me über das Schick­sal der Hei­mat gehal­ten wor­den sind. Damals ist Ber­lin mit etwa 63000 Ost­ju­den, die über­wie­gend der gebil­de­ten Ober­schicht ent­stamm­ten, das Zen­trum der rus­sisch-jüdi­schen, aber auch der natio­nal­rus­si­schen Emi­gra­ti­on gewesen.

Die von den prä­sen­tier­ten Zeit­zeug­nis­sen aus­ge­hen­de Fas­zi­na­ti­on beruht dar­auf, daß sie unmit­tel­ba­re Reak­tio­nen bes­tens Infor­mier­ter auf welt­his­to­ri­sche Kon­flik­te dar­stel­len. Als inter­ne jüdi­sche Stel­lung­nah­men sind sie grund­ehr­lich, nicht durch poli­ti­sche Rück­sich­ten defor­miert und natur­ge­mäß nicht durch die heut­zu­ta­ge vie­les über­schat­ten­den Ausch­witz-Fil­ter gepreßt.

Schlö­gel bewegt sich umsich­tig und ohne Scheu­klap­pen in einem ver­min­ten Feld. Sou­ve­rän und ohne zu pole­mi­sie­ren wür­digt er die gewich­ti­gen Bei­trä­ger zu sei­ner The­ma­tik wie André Ger­rits, Yuri Slez­ki­ne und Oleg Bud­ni­ckij. Dabei läßt er sol­che, die wie Son­ja Mar­go­li­na mit ihrem Ende der Lügen oder auch der Rezen­sent mit sei­nem Mythos vom »jüdi­schen Bol­sche­wis­mus« durch das Sperr­feu­er ideo­lo­gi­scher »Kor­rekt­heit« hin­durch muß­ten, nicht aus.

Das Über­ra­schends­te an die­ser Publi­ka­ti­on ist, daß sie nicht die Sicht lin­ker oder zio­nis­ti­scher, ganz zu schwei­gen ortho­do­xer Juden wie­der­gibt, son­dern die­je­ni­ge der oft über­se­he­nen assi­mi­liert-arri­vier­ten, anti­so­zia­lis­ti­schen rus­sisch-patrio­ti­schen Juden. Also sol­cher Juden, deren Väter das Ghet­to ver­las­sen hat­ten, auf­ge­stie­gen waren und sich zu einem bür­ger­li­chen Ruß­land und sei­ner Kul­tur bekannten.

Dabei gin­gen sie so weit, im mör­de­ri­schen Bür­ger­krieg zwi­schen Rot und Weiß sich zu den von Lin­ken aller Cou­leur als »reak­tio­när« stig­ma­ti­sier­ten »Wei­ßen« zu beken­nen. Tat­säch­lich hat es in deren Rei­hen wüs­te, vor Pogro­men nicht zurück­schre­cken­de Anti­se­mi­ten gege­ben, über wel­che ihre Kom­man­deu­re kei­nes­wegs immer glück­lich waren. Abge­schlach­tet wur­den bei dem Gemet­zel, an dem auch ukrai­ni­sche Anar­chis­ten teil­nah­men, neben Juden auch unzäh­li­ge Ade­li­ge, Popen, Bau­ern und Kapitalisten.

»Vater­län­di­sche« Juden wie der 1867 in Podo­li­en gebo­re­ne, in Odes­sa pro­mo­vier­te Iosif Biker­man waren selbst­kri­tisch genug, dies ein­zu­ge­ste­hen: Jüdi­sche Bol­sche­wi­ken tru­gen auch als »bol­sche­wis­ti­sche Häupt­lin­ge« wie Trotz­ki Mit­ver­ant­wor­tung für die »Zer­stö­rung Ruß­lands«. Biker­man bewer­te­te die­se als »eine Sün­de, die ihre Ver­gel­tung in sich selbst trägt«. Sein Mit­strei­ter, der Arzt Daniil S. Pas­ma­ni­ak, ging in sei­nem Bei­trag »Ruß­land und das rus­si­sche Juden­tum« so weit, von der »schreck­li­chen Rol­le von Trotz­ki, Radek und Co« zu spre­chen. Er for­der­te dazu auf, sich von sol­chen Juden los­zu­sa­gen und eine kla­re Tren­nungs­li­nie zu zie­hen. Da für ihn der Bol­sche­wis­mus eine »töd­li­che Gefahr für das Juden­tum« dar­stell­te, rief er auf zum »Sturz der Sowjet­macht und zur Ret­tung und kul­tu­rel­len Wie­der­ge­burt Rußlands«!

Daß – wie Pas­ma­ni­ak for­mu­lier­te – bereits damals die »Gleich­set­zung von Bol­sche­wis­mus und Juden­tum Mode im moder­nen euro­päi­schen Den­ken« gewor­den war, gab zu den schlimms­ten Befürch­tun­gen Anlaß.

Fest­ge­hal­ten wer­den muß, daß von den Exil­ju­den der hohe jüdi­sche Anteil bei den Bol­sche­wi­ken nicht geleug­net, jedoch deren Ent­frem­dung von jüdi­schen Tra­di­tio­nen her­aus­ge­stellt wur­de. Dabei beton­ten sie die anti­re­li­giö­se Aus­rich­tung des bolschewikischen»Lumpen«- und »Pogrom«-Sozialismus. Der Ver­le­ger­sohn Gri­go­rij A. Land­au warf der sozia­lis­ti­schen jüdi­schen Intel­li­genz vor, an der wirt­schaft­li­chen Zer­rüt­tung Ruß­lands mit­ge­wirkt zu haben und die bür­ger­li­che Gesell­schaft zu ver­ach­ten. Eini­ge der vater­län­di­schen Juden ver­such­ten sich an psy­cho­lo­gi­schen Erklä­run­gen des jüdi­schen Radi­ka­lis­mus. So habe die Ver­fol­gungs­ge­schich­te der Juden eine »Psy­cho­lo­gie des gehetz­ten Wol­fes« her­vor­ge­bracht und nega­ti­ve Gefüh­le gegen­über dem Wirts­volk eingepflanzt.

Über­ein­stim­mung bestand dar­über, daß es der die rus­si­sche Gesell­schaft desta­bi­li­sie­ren­de Welt­krieg gewe­sen ist, der es einer Hand­voll bis­lang in der Emi­gra­ti­on in küm­mer­li­chen Dach­zim­mern leben­den Revo­lu­tio­nä­ren erlaub­te, mit anar­chis­ti­schen Paro­len die Macht an sich zu rei­ßen. Die Schrif­ten der jüdi­schen Exi­lan­ten ent­hal­ten kei­nes­wegs nur tages­po­li­ti­sche Erwä­gun­gen, son­dern auch detail­lier­te Dar­stel­lun­gen zu inner­rus­si­schen Vor­gän­gen sowie his­to­risch-phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­sche Betrachtungen.

Es erscheint wich­tig, das »jüdi­schen Para­dox« zu ken­nen, nach dem die Radi­ka­li­tät des Aus­stiegs aus der jüdi­schen Welt als Beweis für das ver­deck­te Juden­tum der Abtrün­ni­gen gewer­tet wird. Auch gilt es zu wis­sen, daß der Kom­mu­nis­mus äußer­lich »ent­ju­det« und die für ihn nicht unwe­sent­li­che jüdi­sche Rol­le negiert wird.

Tat­säch­lich hat sich der rus­si­schen Bevöl­ke­rung die Vor­stel­lung vom »jüdi­schen Bol­sche­wis­mus« nicht so sehr wegen eini­ger spek­ta­ku­lä­rer jüdi­scher Bol­sche­wi­ken ein­ge­brannt, son­dern weil es nach dem Bür­ger­krieg zu einem Eli­ten­aus­tausch in Ruß­land auch auf der unte­ren und mitt­le­ren Ebe­ne gekom­men ist. Dabei rück­ten auch bis­her nicht­bol­sche­wis­ti­sche Juden in unte­re Lei­tungs­po­si­tio­nen. Hier­für war maß­geb­lich, daß sie ver­gleichs­wei­se schrift­kun­dig waren, über­dies kei­ne son­der­li­chen Loya­li­täts­ge­füh­le gegen­über dem Zaren­reich heg­ten, das ihnen als reli­gi­ös-natio­na­le Min­der­heit die Gleich­be­rech­ti­gung ver­sagt hat­te. Die­ser Rol­len­tausch wirk­te auf vie­le ortho­do­xe Rus­sen wie ein Schock.

Karl Schlö­gel und Karl-Kon­rad Tsch­ä­pes Die Rus­si­sche Revo­lu­ti­on und das Schick­sal der rus­si­schen Juden kann man hier bestel­len.

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