Winfried Böttcher (Hrsg.): Klassiker des europäischen Denkens. Friedens- und Europavorstellungen aus 700 Jahren europäischer Kulturgeschichte, Baden-Baden: Nomos 2014. 781 S., 98 €
Haben mit Martin Schulz (»Monsieur Schulz«) und Jean-Claude Juncker (der nach schnell übertünchter Geheimdienstaffäre die Karriereleiter bis ans Ende hochstieg) die zwei obersten Siegelbewahrer der zur EU-Protodiktatur angeschwollenen »westlichen Wertegemeinschaft« Beiträge für ein Buch mit einem solchen Titel verfaßt, besteht zunächst Anlaß zum Mißtrauen. Eine Ahnengalerie allein der liberalen Vordenker von Entnationalisierung, Entstaatlichung bis hin zur »Einen Welt« der rassen‑, klassen- und massengemischten Konsumenteneinheiten steht zu befürchten. Um so erfreulicher ist der Eindruck, den dieser Band hinterläßt.
Mehr als 100 Denker stellt das Lexikon vor, die – von Pierre Dubois (gest. 1321) bis Václav Havel (gest. 2011) – mit der Frage einer abendländischen oder europäischen Friedensordnung rangen. Der innere Aufbau des Werkes ist klug erdacht. Nach einleitenden Kapiteln zu den großen, aus der Antike herüberreichenden Überlieferungstraditionen folgen in streng chronologischer Ordnung die Lemmata zu den einzelnen Denkern, die mit einem biographischen Abriß, einer Werkskizze und meist auch einer geistesgeschichtlichen Einordnung vorgestellt werden. Umfangreiche Literaturhinweise vervollständigen die Beiträge.
Wie bei mehr als fünf Dutzend Autoren aus ganz Europa nicht anders zu erwarten, sind die Beiträge von unterschiedlicher Qualität. Neben eher hagiographischen Darstellungen des Lebens enthusiastischer Eu-ropa-Forscher, die außerhalb der Fachwelt vergessen sind, stehen exzellente Porträts bedeutender Staatsdenker. Beachtlich ist, daß konservative (auch vergessene) und liberale Denker gleichermaßen berücksichtigt werden, etwas zuungunsten der sozialistisch-revolutionären. Hobbes, Machiavelli und Schmitt werden ebenso vorurteilsfrei und anerkennend gewürdigt wie Herder, Metternich oder etwa Renan und Spengler. Aus Platzmangel seien hier nur noch die Beiträge über Nikolai Danilewski und Aurel Popovici hervorgehoben – Autoren, deren Wiederentdeckung in konservativer Lesart sich lohnt.
Nicht verschwiegen sei der politische Impetus, der das Buch durchzieht. Natürlich soll hier für den europäischen Gedanken im Sinne heutiger Ideologeme geworben werden, was sich in manchen Auswahl- und Gliederungsentscheidungen zeigt (so steht z.B. neben dem »jüdisch-christlichen Erbe« der islamische Einfluß, der freilich vom Autor dieses Abschnitts wieder wohltuend wissenschaftlich-unbestechlich ins rechte Maß gestutzt wird). Ein Jacob Burckhardt muß es sich gefallen lassen, vom Herausgeber und von besagtem Martin Schulz als Islam- und Judenfeind verleumdet zu werden. Ein Makel ist, daß angesichts der sonst ausgewogenen Auswahl zwar Karl Marx und sogar Rosa Luxemburg gewürdigt werden, aber kein Beitrag die faschistischen Europakonzeptionen z.B. von Drieu la Rochelle auch nur summarisch vorstellt.
Trotz solcher Kritikpunkte liegt hier ein Nachschlagewerk vor, das ganze Denkhorizonte in kurzer Zeit erschließen hilft und daher seinen Preis tatsächlich wert ist.
Klassiker des europäischen Denkens von Winfried Böttcher kann man hier bestellen.