Ivan Cistjakov: Sibirien, Sibirien. Tagebuch eines Lageraufsehers, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Irina Scherbakova, aus dem Russischen von Regine Kühn, Berlin: Matthes & Seitz 2014. 288 S., 24.90 €
Das Leben der Gulag-Insassen ist von ehemaligen Häftlingen wie Warlam Schalamow und Alexander Solschenizyn gut dokumentiert worden. Kaum bekannt sind die Umstände und das Denken und Fühlen des Wachpersonals. Das Tagebuch des Ivan Cistjakov ist eines der wenigen erhaltenen Dokumente, die darüber Auskunft geben. Cistjakov war ab 1935 auf den Baustellen der Baikal-Amur-Magistrale als Zugführer der Wachmannschaft eingesetzt. Seine Biographie läßt sich nur in Bruchstücken erschließen. Um 1900 geboren, übte er wohl einen technischen Beruf aus und galt als politisch unzuverlässig. Für die Tätigkeit im Lager war er vom Innenministerium rekrutiert worden.
Seine Existenz ist kaum weniger trostlos als die der Zwangs-arbeiter. Ihn plagen sibirische Kälte, Nässe, Schmutz und Schlamm. Er lebt in einem Vier-Quadratmeter-Zimmer, dessen Wände und Fenster undicht sind. Einen Waschraum gibt es nicht, Holz zum Heizen fehlt.»Ich stelle euch vielleicht absichtlich keinen Ofen hin, damit ihr nicht zu lange rumsitzt«, läßt der Vorgesetzte seine Untergebenen wissen. Schon nach einem Monat hat er das Gefühl, daß ihn das Elend, der Stumpfsinn und Desorganisation überwältigt haben.
Im ersten Satz des Vorworts ist von den »Tätern« die Rede. Auf Cistjakov, der selber 1937 verhaftet wurde und 1941 an der Front fiel, trifft das nicht zu. Und wenn die Herausgeberin an anderer Stelle schreibt, Cistjakov sei »ein typischer Vertreter der kleinen Leute« gewesen, der »lediglich ein loyaler Staatsbürger« sein wollte, klingt das mehr als herablassend. Der Tagebuchschreiber möchte vom Staat einfach in Ruhe gelassen werden! Sein Interessenspektrum ist groß. Es umfaßt Theateraufführungen, Ausstellungen, Museen, Kinofilme, Vorträge. Er malt, beschäftigt sich mit technischen Fragen und sehnt sich nach zivilisierter Gesellschaft. Alles, was sein Leben lebenswert gemacht hat, wurde ihm vom sowjetischen Staat genommen. »Moskau! Moskau! Weit weg und unerreichbar«, klagt er. Das ist potenzierter Tschechow in Zeiten des Gulag!
Ivan Cistjakovs Sibirien, Sibirien kann man hier bestellen.