Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre.

Philipp Blom: Die zerrissenen Jahre. 1918 bis 1938, München: Hanser 2014. 572 S., 27.90 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Phil­ipp Bloms Der tau­meln­de Kon­ti­nent. Euro­pa 1900–1914 (2009) war ein viel­be­ach­te­tes Buch. In Die zer­ris­se­nen Jah­re schreibt der His­to­ri­ker nun sei­ne pri­mär sozi­al- und kul­tur­ge­schicht­lich ori­en­tier­te Chro­no­lo­gie fort und ver­stärkt über­zeu­gend sei­ne eige­ne The­se: daß die Mar­ke 1914/16 kei­ne Zäsur war, son­dern daß der Welt­krieg als Ver­stär­ker und Beschleu­ni­ger für jene Ent­wick­lun­gen fun­gier­te, die bereits in der Zeit um die Jahr­hun­dert­wen­de ange­legt waren. Blom, gebür­ti­ger Ham­bur­ger (1970) und Wahl­wie­ner mit Zwi­schen­zei­ten in Eng­land und den USA, schreibt sei­ne Bücher erstaun­li­cher­wei­se auf eng­lisch, die deut­schen Über­set­zun­gen hat er selbst besorgt.

Der unver­kenn­bar anglo­phi­le Stil – nicht in Form einer Par­tei­nah­me – ist hier Nut­zen und Nach­teil zugleich: Man liest das dicke Buch (500 Sei­ten ohne Lite­ra­tur­hin­wei­se) flott und mit Gewinn. Der rezep­ti­ons­freund­li­che essay­is­ti­sche Stil kommt einem so sehr ent­ge­gen, wie er gele­gent­lich durch sei­ne läs­si­ge Flat­ter­haf­tig­keit abstößt. Ers­te­res über­wiegt; selbst in jenen Kapi­teln, wo man sich wünsch­te, der Autor hät­te sei­nen Fokus weni­ger stark auf die US-ame­ri­ka­ni­sche Geschich­te gerich­tet. Euro­pa und USA: das war mit­nich­ten eine Welt, und es ist kei­nes­wegs durch­gän­gig so, daß Ent-wick­lun­gen, die sich dort anbahn­ten, mit Ver­spä­tung auf den hie­si­gen Kon­ti­nent schwapp­ten. Vor allem: Daß der deut­sche Weg in die Moder­ne bis zum Krieg ein grund­le­gend ande­rer war als selbst in den euro­päi­schen Nach­bar­staa­ten, das bezieht Blom nur am Ran­de ein.

Jedem Jahr zwi­schen 1918 und 1938 wid­met Blom ein Kapi­tel, das je ein bezie­hungs­rei­ches Phä­no­men her­aus­stellt. Jedes beginnt mit einem anek­do­ti­schen Lese­fän­ger: »Ber­tie Woos­ter saß wie­der ein­mal in der Klem­me. Das war nichts Beson­de­res für den freund­li­chen Trot­tel aus der Ober­schicht …«, so beginnt das Kapi­tel zu 1934, das die Wirt­schafts­kri­se in Groß­bri­tan­ni­en abhan­delt. Beson­ders inter­es­sant sind die Kapi­tel zu 1918 (»Shell Shock«) über die Inte­gra­ti­on der immensen Zahl von Kriegs­krüp­peln in die ein­zel­nen euro­päi­schen Län­der, 1919 (»Ein poe­ti­scher Staats­streich«) zu Gabrie­le D’Annuzios tem­po­rä­rer Staats­grün­dung , 1923 (»Jen­seits der Milch­stra­ße«) zur Strahl­kraft moder­ner Natur­wis­sen­schaf­ten und 1933 (»Pogro­me des Intel­lekts«) zum Ver­hal­ten der deut­schen Intel­li­genz gegen­über der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Machtübernahme.

Blom eröff­net kei­ne neu­en Quel­len, aber er rich­tet ein Brenn­glas auf – teils vor­erst sub­ku­tan wahr­nehm­ba­re – Bewe­gun­gen und Moden. Illus­triert wird dies durch zahl­rei­che gut aus­ge­wähl­te Schwarz­weiß­ab­bil­dun­gen. Wer wuß­te, daß Vir­gi­nia Woolf und John May­nard Keynes euge­ni­sche Maß­nah­men befür­wor­te­ten? Daß Ber­lin mit sei­nen 170 poli­zei­lich über­wach­ten Män­ner­bor­del­len 1930 als »Tag­traum eines jeden Schwu­len« galt? Wer kennt Haupt­mann Wolf­gang Fürst­ner, der ab 1934 das Olym­pi­sche Dorf plan­te und orga­ni­sier­te und sich unmit­tel­bar nach Abschluß der Spie­le erschoß?

Blom läßt sich zu eini­gen weni­gen Flap­sig­kei­ten hin­rei­ßen (»anschei­nend lieb­te Hit­ler nichts mehr, als sich abends von sei­nen über­mensch­li­chen Auf­ga­ben im Sin­ne der Vor­se­hung zu erho­len, indem er sich Fil­me mit Lau­rel und Har­dy, Micky­maus oder Gre­ta Gar­bo ansah«), ansons­ten ver­fährt er sach­lich und am aktu­el­len For­schungs­stand aus­ge­rich­tet, was bei­spiel­haft sein Kapi­tel über den Spa­ni­schen Bür­ger­krieg zeigt. Bestechend ist ins­ge­samt, wie Blom den Geist der Zeit ein­fängt und wie er aktu­el­le poli­ti­sche Ent­wick­lun­gen mit Lebens­ge­füh­len zusam­men­führt. Sei­ne The­se, daß die Kriegs­jah­re 1914–18 kei­nen Bruch dar­stell­ten, steht. Dar­über hin­aus zeigt sich Blom in fast jeder Lage abwä­gend: einer­seits-ander­seits. Fürch­tet man als Leser anhand man­cher per­spek­ti­vi­schen Schil­de­rung eine Eng­füh­rung der Bewei­se, heißt es bald lockernd: »Das ist aber nur die hal­be Wahr­heit«. Was will man mehr?

Die zer­ris­se­nen Jah­re von Phil­ipp Blom kann man hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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