Philipp Bloms Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914 (2009) war ein vielbeachtetes Buch. In Die zerrissenen Jahre schreibt der Historiker nun seine primär sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Chronologie fort und verstärkt überzeugend seine eigene These: daß die Marke 1914/16 keine Zäsur war, sondern daß der Weltkrieg als Verstärker und Beschleuniger für jene Entwicklungen fungierte, die bereits in der Zeit um die Jahrhundertwende angelegt waren. Blom, gebürtiger Hamburger (1970) und Wahlwiener mit Zwischenzeiten in England und den USA, schreibt seine Bücher erstaunlicherweise auf englisch, die deutschen Übersetzungen hat er selbst besorgt.
Der unverkennbar anglophile Stil – nicht in Form einer Parteinahme – ist hier Nutzen und Nachteil zugleich: Man liest das dicke Buch (500 Seiten ohne Literaturhinweise) flott und mit Gewinn. Der rezeptionsfreundliche essayistische Stil kommt einem so sehr entgegen, wie er gelegentlich durch seine lässige Flatterhaftigkeit abstößt. Ersteres überwiegt; selbst in jenen Kapiteln, wo man sich wünschte, der Autor hätte seinen Fokus weniger stark auf die US-amerikanische Geschichte gerichtet. Europa und USA: das war mitnichten eine Welt, und es ist keineswegs durchgängig so, daß Ent-wicklungen, die sich dort anbahnten, mit Verspätung auf den hiesigen Kontinent schwappten. Vor allem: Daß der deutsche Weg in die Moderne bis zum Krieg ein grundlegend anderer war als selbst in den europäischen Nachbarstaaten, das bezieht Blom nur am Rande ein.
Jedem Jahr zwischen 1918 und 1938 widmet Blom ein Kapitel, das je ein beziehungsreiches Phänomen herausstellt. Jedes beginnt mit einem anekdotischen Lesefänger: »Bertie Wooster saß wieder einmal in der Klemme. Das war nichts Besonderes für den freundlichen Trottel aus der Oberschicht …«, so beginnt das Kapitel zu 1934, das die Wirtschaftskrise in Großbritannien abhandelt. Besonders interessant sind die Kapitel zu 1918 (»Shell Shock«) über die Integration der immensen Zahl von Kriegskrüppeln in die einzelnen europäischen Länder, 1919 (»Ein poetischer Staatsstreich«) zu Gabriele D’Annuzios temporärer Staatsgründung , 1923 (»Jenseits der Milchstraße«) zur Strahlkraft moderner Naturwissenschaften und 1933 (»Pogrome des Intellekts«) zum Verhalten der deutschen Intelligenz gegenüber der nationalsozialistischen Machtübernahme.
Blom eröffnet keine neuen Quellen, aber er richtet ein Brennglas auf – teils vorerst subkutan wahrnehmbare – Bewegungen und Moden. Illustriert wird dies durch zahlreiche gut ausgewählte Schwarzweißabbildungen. Wer wußte, daß Virginia Woolf und John Maynard Keynes eugenische Maßnahmen befürworteten? Daß Berlin mit seinen 170 polizeilich überwachten Männerbordellen 1930 als »Tagtraum eines jeden Schwulen« galt? Wer kennt Hauptmann Wolfgang Fürstner, der ab 1934 das Olympische Dorf plante und organisierte und sich unmittelbar nach Abschluß der Spiele erschoß?
Blom läßt sich zu einigen wenigen Flapsigkeiten hinreißen (»anscheinend liebte Hitler nichts mehr, als sich abends von seinen übermenschlichen Aufgaben im Sinne der Vorsehung zu erholen, indem er sich Filme mit Laurel und Hardy, Mickymaus oder Greta Garbo ansah«), ansonsten verfährt er sachlich und am aktuellen Forschungsstand ausgerichtet, was beispielhaft sein Kapitel über den Spanischen Bürgerkrieg zeigt. Bestechend ist insgesamt, wie Blom den Geist der Zeit einfängt und wie er aktuelle politische Entwicklungen mit Lebensgefühlen zusammenführt. Seine These, daß die Kriegsjahre 1914–18 keinen Bruch darstellten, steht. Darüber hinaus zeigt sich Blom in fast jeder Lage abwägend: einerseits-anderseits. Fürchtet man als Leser anhand mancher perspektivischen Schilderung eine Engführung der Beweise, heißt es bald lockernd: »Das ist aber nur die halbe Wahrheit«. Was will man mehr?
Die zerrissenen Jahre von Philipp Blom kann man hier bestellen.