Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer. Roman, München: Hanser 2013. 653 S., 24.90 €

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Man neigt dazu, die Werk­lis­te des öster­rei­chi­schen Schrift­stel­lers Micha­el Köhl­mei­er »uner­meß­lich« zu nen­nen. Köhl­mei­er, stu­dier­ter Phi­lo­soph und Mathe­ma­ti­ker, ver­öf­fent­licht im Akkord. Jedes Jahr ein Buch, im Schnitt, und das seit Jahr­zehn­ten. Neben sei­nen Roma­nen wur­de er durch Nach­er­zäh­lun­gen klas­si­scher Sagen­stof­fe populär.

Gera­de ist mit Zwei Her­ren am Strand ein wei­te­res Buch aus sei­ner Feder erschie­nen, das auf die Aus­wahl­lis­te zum Deut­schen Buch­preis gesetzt wur­de. Man liest die­se Sachen gern, Köhl­mei­er ver­steht sein Hand­werk. War­um hat man mit Ver­spä­tung zu den Aben­teu­ern des Joel Spa­zie­rer gegrif­fen? Weil der Buch­rü­cken zu pink, der Titel gra­phisch abschre­ckend erschien? Weil Köhl­mei­er kurz vor­her schon mal (mit sei­ner Gat­tin) eine »jüdi­sche Geschich­te« ver­faßt hat­te, ein Kin­der­buch, das man als miß­lun­gen emp­fun­den hat­te? Oder weil der kilo­schwe­re Spa­zie­rer all­zu dick­lei­big erschien?

Bes­ser spät als nie: Die­ses Buch – just als Taschen­buch­aus­ga­be erschie­nen – ist nichts weni­ger als ein Meis­ter­werk der Erzähl­kunst, hin- und mit­rei­ßend von der ers­ten bis zur letz­ten Zei­le. So schrei­ben Kön­ner: ohne jedes Arbeits­ge­räusch, dabei span­nend, anspruchs­voll und enorm ein­falls­reich. Ver­stie­gen? Ja, das durch­aus, aber wie soll­te es anders gehen ange­sichts des laby­rin­thi­schen Daseins die­ses Prot­ago­nis­ten?

Joel Spa­zie­rer wur­de vom renom­mier­ten Schrift­stel­ler Sebas­ti­an Lukas­ser ange­regt, sein Leben auf­zu­schrei­ben. Den Lukas­ser ken­nen wir aus ande­ren Köhl­mei­er-Roma­nen, es ist ein Alter ego des Autors selbst. Auch ande­ren Figu­ren, wie dem bele­se­nen Ehe­paar Leno­bel mit sei­nen gewag­ten jüdi­schen Wit­zen, begeg­nen wir erneut. Spa­zie­rer ist ein aus­ge­dach­ter Name. Als Kind hieß er erst András Fülöp, spä­ter And­res Phil­ip, kurz­zei­tig Robert Rosen­ber­ger, dann Ernst-Thäl­mann Koch, kein Tipp­feh­ler: Thäl­mann ist der zwei­te Teil des Vor­na­mens. »Spa­zie­rer« wur­de zur Iden­ti­täts­ver­schleie­rung von einem ver­trau­ten lin­ken Pfar­rer für gut befun­den: »Es ist nicht schlecht, wenn die Leu­te mei­nen, es sei ein jüdi­scher Name. Dann fra­gen sie nicht. …

Viel­leicht wäre es nicht schlecht, wenn du das Jüdi­sche mit einem jüdi­schen Vor­na­men betonst.« Unser Held hat allen Grund, sei­ne Iden­ti­tät zu ver­heh­len. Er ist ein Mör­der und ein Lüg­ner. Ange­sichts des­sen – er hat zusätz­lich gedealt, er hat sich pro­sti­tu­iert, hat Ehen und Dut­zen­de Geset­ze gebro­chen – grenzt es an ein Wun­der, daß wir Hun­der­te Sei­ten mit ihm hof­fen und ban­gen. Sol­len wir Joel Spa­zie­rer einen schlech­ten Men­schen nen­nen? Fie­bern wir aus Mit­leid mit ihm? Nein, nein. Es ist viel komplizierter.

Als er ein Kind war, in Buda­pest, hol­te die Staats­si­cher­heit sei­ne Groß­el­tern, bei denen er auf­wuchs. Sta­lins Scher­gen, die die Groß­el­tern mal­trä­tie­ren und ver­ge­wal­ti­gen (ein Miß­ver­ständ­nis, wie sich her­aus­stel­len wird), über­sa­hen András, der nun tage­lang in der Woh­nung auf sich gestellt war – als Drei­jäh­ri­ger. »Ein Mensch mit drei Jah­ren fühlt sich nicht als Kind«. Die­ser hier fühl­te sich als König von Xan­ten. Die Geschich­te war ihm vor­ge­le­sen wor­den. »Ich habe mich nie erwach­se­ner gefühlt als damals, war nie ver­nünf­ti­ger gewe­sen, nie lebens­fä­hi­ger – näm­lich in der Lage, mich anzu­pas­sen. Kei­ne Wei­ner­lich­keit. Kei­ne Angst. Kei­ne Abschwei­fung. Kei­ne Empa­thie. Kei­ne Wahr­heit, kei­ne Lüge.

Ich hät­te mir zuge­traut, einen Staat zu len­ken.« Die Tie­re, die auf sei­ne Decke gestickt sind, wer­den dem klei­nen András leben­dig, sie wer­den ihm über Jahr­zehn­te hel­fen. Sie exis­tie­ren, sie haben Ver­nunft. Spä­ter keh­ren die Groß­el­tern zurück, auch die blut­jun­ge Mut­ter und ein soge­nann­ter Vater. Man flieht aus Ungarn nach Wien, doch András bleibt gewis­ser­ma­ßen obdach­los, zumin­dest halt­los in tran­szen­den­ta­ler Hin­sicht. Es gibt kei­ne Erzie­hung, sei­ne Leu­te haben ande­re Sor­gen und Lüs­te. Bereits das Kind gerät auf Abwege.

Man darf den Lebens­weg des spä­te­ren Spa­zie­rer als ein »aus sich selbst rol­len­des Rad« ver­ste­hen, als Weg eines Über­men­schen im zara­thus­tri­schen Sin­ne: »Sei­ne Welt gewinnt sich der Welt­ver­lo­re­ne« (Nietz­sche). András ali­as Joel ist dabei kein Gott­su­cher. Nicht das »cre­do ut intel­li­gam« beglei­tet sei­nen Weg, son­dern umge­kehrt: Unser Held glaubt nicht an Gott, kei­nes­wegs tut er das (er wird in der DDR als cha­ris­ma­ti­scher Pro­fes­sor E.-T. Koch einen Lehr­stuhl für wis­sen­schaft­li­chen Athe­is­mus inne­ha­ben), er weiß, daß es ihn gibt, denn er ist ihm zwei­fel­los begeg­net. Es gibt einen Unter­schied zwi­schen Wahr­heit und Wirklichkeit!

Man könn­te ihn kom­pli­ziert sezie­ren. Ähn­lich ver­hält es sich mit der Tren­nung zwi­schen Gut und Böse. Es gibt unge­zähl­te Trak­ta­te dar­über, eben­so zum aus mit­tel­al­ter­li­cher Zeit stam­men­den Streit zwi­schen Uni­ver­sa­lis­mus und Nomi­na­lis­mus. All die­se Erwä­gun­gen ver­ei­ni­gen sich im aben­teu­er­li­chen Leben des Joel Spa­zie­rer, die­sem von aller Welt gelieb­ten Nar­ren in Chris­to. Sel­ten erscheint ein Buch von sol­cher Welt­hal­tig­keit. Dies hier ist Weltklasse.

Micha­el Köhl­mei­ers Die Aben­teu­er des Joel Spa­zie­rer kann man hier bestel­len. 

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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