»Als in der Wall Street und in Washington auf einmal unglaublich viel verdient wurde, als es möglich war, riesige Summen in die eigene Tasche zu wirtschaften – ich selbst bin ein Beispiel dafür, kein Mensch weiß, wer ich bin, aber ich hatte Millionen, als ich Washington verließ –, als bestimmte Praktiken kaum noch Konsequenzen hatten, als Verhaltensnormen wegbrachen, die zumindest die schlimmsten Exzesse der Geldmacherei verhindert hatten, kippte plötzlich die gesamte Kultur. Und zwar gleichzeitig an der Wall Street und in Washington.«
Der Inhalt des in den USA gefeierten gesellschaftskritischen Reportage-Romans George Packers ist in dieser Wortmeldung Jeff Connaughtons gebündelt. Con-naughton ist eine von rund zwanzig Hauptfiguren, deren Ent- und Abwicklungsgeschichten – ineinandergewoben und über Jahrzehnte verfolgt – Packers Buch zu einer fesselnden Lektüre machen. Connaughton pendelt als Kenner aller Machtspiele in Washington zwischen Politik, Lobbyismus und Bankmanagement, verdient Unsummen und entdeckte etwa 2010 sein Gewissen – eine Regung, die ihn von vielen anderen Nutznießern und Betreibern der großen gesellschaftlichen Abwicklung unterscheidet. Andere Unbekannte, deren Lebensgeschichte Packer beispielhaft für das Millionenheer der Absteiger aus der Mittelschicht erzählt, stehen neben denen, die unermeßlich reich gewordenen sind, weil sie mit der Grenzenlosigkeit des neuen Amerika zu spielen und zu wirtschaften begannen und an einer neuerlichen Hegung des freidrehenden Marktes keinerlei Interesse haben können.
Da ist Robert Rubin, der ehemalige demokratischen Finanzminister und spätere Direktor des Finanzkonzerns Citigroup – er hat die Grenzen zwischen Politik und Lobbyismus bis zur Unkenntlichkeit verwischt; da sind die republikanischen Politiker Newt Gingrich und Colin Powell, die halfen, die Idee des freien Marktes radikal umzusetzen und die weniger gewiefte Mittelschicht den Könnern auf dem Gebiet der Finanzspekulation auszuliefern; da ist der deutschstämmige Investor Peter Thiel, der mit Pay-Pal und als Teilhaber an Facebook ein Milliardenvermögen verdiente und dessen Vision die Aushebelung des Schicksals und der menschlichen Unzulänglichkeit ist; und dann haben wir den Wal-Mart-Gründer Sam Walton, dessen Familie soviel Geld besitzt wie die unteren 30 Prozent aller Amerikaner zusammen.
Was die Lektüre dieser klug aufeinander abgestimmten Reportagen für einen konservativen Leser faszinierend macht, ist dies: Aus liberaler Sicht läßt sich gegen keine der genannten Persönlichkeiten etwas anführen. Sie wurden gewählt und haben sich wieder zur Wahl stellen müssen (Newt Gingrich und Colin Powell), haben eine Geschäftsidee entwickelt (Sam Walton), und keiner zwang die Kunden, dort einzukaufen.
Sie haben in die Zukunft des Internets investiert (Peter Thiel) oder in die Politik (Robert Rubin). Ihnen ist eigentlich nur aus konservativer Sicht etwas vorzuwerfen: Alles Entgrenzte, Maßlose, Ungehemmte, Losgelassene endet für die Masse stets im Debakel. Denn ihr fehlen die Skrupellosigkeit, die Weitsicht, die Mittel und das Abgewichste, um ein Gebäude zuerst um seine tragenden Wände zu bringen und sich dann im richtigen Augenblick abzusetzen.
Aber genau diese Fähigkeit benötigt man, wenn man eine Gesellschaftsordnung (hier: das Finanz- und Wirtschaftssystem) aufs Spiel setzt, um Beute zu machen. Es sind nur wenige, die sich rechtzeitig und reich aus den Trümmern retten – die anderen werden darunter begraben. Wo Packer den stets hilflosen Widerstand gegen die Aushebelung des Rechtssystems gegenüber einem heißlaufenden Finanzsektor schildert, gewinnt sein Buch etwas Tragisches.»Occupy Wall Street« wird für einzelne Akteure zur Erfüllung eines Lebenstraums, aber die Graswurzelrevolution gegen die Bankentürme ist – realpolitisch betrachtet – schon ohnmächtig, als sie Zigtausende elektrisiert. Und im Vorzimmer des Präsidenten versanden die Bemühungen, den Machenschaften der Pleitebanken und ‑fonds das Handwerk zu legen und die Verantwortlichen zu bestrafen: Zu wirkungsvoll ist die Lobbyarbeit der Finanzwelt, zu wenig unabhängig ist die Politik.
Man weiß nach der Lektüre der Abwicklung, daß die Einsicht in die Notwendigkeit der Mäßigung selbst in Amerika jahrzehntelang galt. Versicherte Spareinlagen, das Verbot von Hochrisikospekulationen und eine strenge Kontrolle des Aktienhandels waren bis vor zwanzig Jahren geschriebenes Gesetz. Der Mensch wurde vor sich selbst, vor der Gier der anderen und vor der Aushöhlung der Institutionen geschützt. Seltsam ist, daß der Durchschnittsamerikaner diesen Schutz für eine Beschränkung seiner Freiheit hält. Noch in der Ohnmacht, in der er vor dem Ruin seines Lebens und Vermögens und vor allem vor den übermächtigen Kraken des Systems steht, sucht er die Schuld eher bei sich selbst. Denn andere haben es ja geschafft, und zwar aus einer Position heraus, die nicht besser war als die seine.
Beute machen: Was könnte daran schlecht sein? Wenn man Packer gelesen hat, weiß man es. Ob er weiß, daß er die Mündigkeit, dieses Alibiwort für die Verführung der Massen, zu Recht in Frage stellt, indem zumindest er sich nach Obhut sehnt?
George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika von S. Fischer kann man hier bestellen.