George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika

George Packer: Die Abwicklung. Eine innere Geschichte des neuen Amerika,  a.M.: S. Fischer 2014.
512 S., 24.99 €

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

»Als in der Wall Street und in Washing­ton auf ein­mal unglaub­lich viel ver­dient wur­de, als es mög­lich war, rie­si­ge Sum­men in die eige­ne Tasche zu wirt­schaf­ten – ich selbst bin ein Bei­spiel dafür, kein Mensch weiß, wer ich bin, aber ich hat­te Mil­lio­nen, als ich Washing­ton ver­ließ –, als bestimm­te Prak­ti­ken kaum noch Kon­se­quen­zen hat­ten, als Ver­hal­tens­nor­men weg­bra­chen, die zumin­dest die schlimms­ten Exzes­se der Geld­ma­che­rei ver­hin­dert hat­ten, kipp­te plötz­lich die gesam­te Kul­tur. Und zwar gleich­zei­tig an der Wall Street und in Washington.«

Der Inhalt des in den USA gefei­er­ten gesell­schafts­kri­ti­schen Repor­ta­ge-Romans Geor­ge Packers ist in die­ser Wort­mel­dung Jeff Con­n­augh­tons gebün­delt. Con-naugh­ton ist eine von rund zwan­zig Haupt­fi­gu­ren, deren Ent- und Abwick­lungs­ge­schich­ten – inein­an­der­ge­wo­ben und über Jahr­zehn­te ver­folgt – Packers Buch zu einer fes­seln­den Lek­tü­re machen. Con­n­augh­ton pen­delt als Ken­ner aller Macht­spie­le in Washing­ton zwi­schen Poli­tik, Lob­by­is­mus und Bank­ma­nage­ment, ver­dient Unsum­men und ent­deck­te etwa 2010 sein Gewis­sen – eine Regung, die ihn von vie­len ande­ren Nutz­nie­ßern und Betrei­bern der gro­ßen gesell­schaft­li­chen Abwick­lung unter­schei­det. Ande­re Unbe­kann­te, deren Lebens­ge­schich­te Packer bei­spiel­haft für das Mil­lio­nen­heer der Abstei­ger aus der Mit­tel­schicht erzählt, ste­hen neben denen, die uner­meß­lich reich gewor­de­nen sind, weil sie mit der Gren­zen­lo­sig­keit des neu­en Ame­ri­ka zu spie­len und zu wirt­schaf­ten began­nen und an einer neu­er­li­chen Hegung des frei­dre­hen­den Mark­tes kei­ner­lei Inter­es­se haben können.

Da ist Robert Rubin, der ehe­ma­li­ge demo­kra­ti­schen Finanz­mi­nis­ter und spä­te­re Direk­tor des Finanz­kon­zerns Citigroup – er hat die Gren­zen zwi­schen Poli­tik und Lob­by­is­mus bis zur Unkennt­lich­keit ver­wischt; da sind die repu­bli­ka­ni­schen Poli­ti­ker Newt Ging­rich und Colin Powell, die hal­fen, die Idee des frei­en Mark­tes radi­kal umzu­set­zen und die weni­ger gewief­te Mit­tel­schicht den Kön­nern auf dem Gebiet der Finanz­spe­ku­la­ti­on aus­zu­lie­fern; da ist der deutsch­stäm­mi­ge Inves­tor Peter Thiel, der mit Pay-Pal und als Teil­ha­ber an Face­book ein Mil­li­ar­den­ver­mö­gen ver­dien­te und des­sen Visi­on die Aus­he­be­lung des Schick­sals und der mensch­li­chen Unzu­läng­lich­keit ist; und dann haben wir den Wal-Mart-Grün­der Sam Walt­on, des­sen Fami­lie soviel Geld besitzt wie die unte­ren 30 Pro­zent aller Ame­ri­ka­ner zusammen.

Was die Lek­tü­re die­ser klug auf­ein­an­der abge­stimm­ten Repor­ta­gen für einen kon­ser­va­ti­ven Leser fas­zi­nie­rend macht, ist dies: Aus libe­ra­ler Sicht läßt sich gegen kei­ne der genann­ten Per­sön­lich­kei­ten etwas anfüh­ren. Sie wur­den gewählt und haben sich wie­der zur Wahl stel­len müs­sen (Newt Ging­rich und Colin Powell), haben eine Geschäfts­idee ent­wi­ckelt (Sam Walt­on), und kei­ner zwang die Kun­den, dort einzukaufen.

Sie haben in die Zukunft des Inter­nets inves­tiert (Peter Thiel) oder in die Poli­tik (Robert Rubin). Ihnen ist eigent­lich nur aus kon­ser­va­ti­ver Sicht etwas vor­zu­wer­fen: Alles Ent­grenz­te, Maß­lo­se, Unge­hemm­te, Los­ge­las­se­ne endet für die Mas­se stets im Deba­kel. Denn ihr feh­len die Skru­pel­lo­sig­keit, die Weit­sicht, die Mit­tel und das Abge­wichs­te, um ein Gebäu­de zuerst um sei­ne tra­gen­den Wän­de zu brin­gen und sich dann im rich­ti­gen Augen­blick abzusetzen.

Aber genau die­se Fähig­keit benö­tigt man, wenn man eine Gesell­schafts­ord­nung (hier: das Finanz- und Wirt­schafts­sys­tem) aufs Spiel setzt, um Beu­te zu machen. Es sind nur weni­ge, die sich recht­zei­tig und reich aus den Trüm­mern ret­ten – die ande­ren wer­den dar­un­ter begra­ben. Wo Packer den stets hilf­lo­sen Wider­stand gegen die Aus­he­be­lung des Rechts­sys­tems gegen­über einem heiß­lau­fen­den Finanz­sek­tor schil­dert, gewinnt sein Buch etwas Tragisches.»Occupy Wall Street« wird für ein­zel­ne Akteu­re zur Erfül­lung eines Lebens­traums, aber die Gras­wur­zel­re­vo­lu­ti­on gegen die Ban­ken­tür­me ist – real­po­li­tisch betrach­tet – schon ohn­mäch­tig, als sie Zig­tau­sen­de elek­tri­siert. Und im Vor­zim­mer des Prä­si­den­ten ver­san­den die Bemü­hun­gen, den Machen­schaf­ten der Plei­te­ban­ken und ‑fonds das Hand­werk zu legen und die Ver­ant­wort­li­chen zu bestra­fen: Zu wir­kungs­voll ist die Lob­by­ar­beit der Finanz­welt, zu wenig unab­hän­gig ist die Politik.

Man weiß nach der Lek­tü­re der Abwick­lung, daß die Ein­sicht in die Not­wen­dig­keit der Mäßi­gung selbst in Ame­ri­ka jahr­zehn­te­lang galt. Ver­si­cher­te Spar­ein­la­gen, das Ver­bot von Hoch­ri­si­ko­spe­ku­la­tio­nen und eine stren­ge Kon­trol­le des Akti­en­han­dels waren bis vor zwan­zig Jah­ren geschrie­be­nes Gesetz. Der Mensch wur­de vor sich selbst, vor der Gier der ande­ren und vor der Aus­höh­lung der Insti­tu­tio­nen geschützt. Selt­sam ist, daß der Durch­schnitts­ame­ri­ka­ner die­sen Schutz für eine Beschrän­kung sei­ner Frei­heit hält. Noch in der Ohn­macht, in der er vor dem Ruin sei­nes Lebens und Ver­mö­gens und vor allem vor den über­mäch­ti­gen Kra­ken des Sys­tems steht, sucht er die Schuld eher bei sich selbst. Denn ande­re haben es ja geschafft, und zwar aus einer Posi­ti­on her­aus, die nicht bes­ser war als die seine.

Beu­te machen: Was könn­te dar­an schlecht sein? Wenn man Packer gele­sen hat, weiß man es. Ob er weiß, daß er die Mün­dig­keit, die­ses Ali­bi­wort für die Ver­füh­rung der Mas­sen, zu Recht in Fra­ge stellt, indem zumin­dest er sich nach Obhut sehnt?

Geor­ge Packer: Die Abwick­lung. Eine inne­re Geschich­te des neu­en Ame­ri­ka von S. Fischer kann man hier bestel­len.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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