Frederik Kallenberg ist verschwunden. Das ist schon deshalb der Rede wert, weil Kallenberg kein Mann für spontane Sperenzchen ist. Zur Schlagzeile wird seine fast spurlose Abwesenheit deshalb, weil er MdBist, Mitglied des Bundestags. »Keine Experimente« ist Kallenbergs Motto, und auf seinen Wahlplakaten stehen Slogans wie »Werte wählen«, »Anstand hat einen Namen« oder, umständlich, wie er ist: »Andere spotten über die heile Welt – ich kämpfe für sie.« Kallenberg ist durch und durch konservativ. Er ist eine ehrliche Haut. Seine Heimat ist die sauerländische Provinz.
Als Junge hatte er schwer unter der mütterlichen Untreue, dem väterlichen Phlegma und Suff gelitten. Er entwickelte Zwangsneurosen und fand dauerhaften Trost und Zuspruch in der katholischen Kirche. Und in Julia, die er seit der Schulzeit liebt. Die beiden haben zwei Kinder und telephonieren zu festgelegten Zeiten, wenn Frederik in Berlin sein muß. Frederik ist das gute Gewissen seiner Partei, er gilt als »letzter Joker des deutschen Konservatismus«.
Manche nennen ihn einen »konservativen Revolutionär«, andere schimpfen den attraktiven, nachdenklichen Mann einen »reaktionären Sack«. Im Netz kursieren Haßseiten wie»kallenbergswirrewelt« und»stoppt-kallenberg«.
Den Politiker tangiert das nur am Rande. Aus grundsätzlichen Erwägungen begibt er sich selten in virtuelle Welten, selbst sein Mobiltelephon bedient er nur sporadisch. Heute: das ist nicht seine Welt. Sie erscheint ihm als laut, verlogen, mit albernen Anglizismen durchsetzt, durch und durch dekadent. Mit Schrecken und Ekel merkt er, daß auch seine weltanschaulich nahesten Kollegen des »Konservativen Kreises« längst angefressen sind von den Übeln der Zeit, daß sie Zoten reißen und Stripbars besuchen. Kallenberg hat sich einen Namen gemacht als Verfechter eines Müttergeldes. Schlagende Argumente für die häusliche Betreuung des Nachwuchses hat er stets parat, er kennt Studien, Statistiken, Fälle.
Aber dann gerät er ausgerechnet in der meistgesehenen Talkshow an Dagmar Keppler, jene doppelgesichtige Grande Dame des bundesrepublikanischen (Alt-)Feminismus. Keppler (kaum verborgen und treffend gezeichnet ein Alter ego Alice Schwarzers) redet den gutmütigen Fontane-Liebhaber Kallenberg in Grund und Boden: »Stopstopstop! Jetzt lassen sie mich mal ausreden!« Die Frauenrechtlerin beginnt jede ihrer publikumswirksamen Einlagen mit einer fauchenden Drohung: Die Sendung wird zur glatten Niederlage Kallenbergs. So sehr, daß sich selbst die Kanzlerin per Handy bei ihrem Parteikollegen meldet. Frau Bundeskanzler fragt süffisant, ob er, Kallenberg, etwa ein Problem mit einer Frau als Chefin habe?
Deutlich besser lief da die Diskussion, die Kallenberg kurz zuvor in einem kleinen, linken Asta-Kreis mit der Jungfeministin Liane führte. Es hatte Rede und Gegenrede gegeben, und es zeigte sich, daß Gegensätze sich durchaus anziehen können. Und aus-! Was der zuvor treue Familienvater nicht ahnt: Liane hat eine Wette laufen. Sie soll Kallenberg verführen. Es wird ihr gelingen.
Markus Feldenkirchens Buch der Psychogenese eines strauchelnden konservativen Überzeugungstäters ist überaus unterhaltsam, auch wenn die oft holzschnittartige Sprache («die Frauen rasteten fast aus vor Begeisterung«) verrät, daß hier kein großer Stilist am Werk war. Sein Personal hingegen führt er trotz zahlreicher Klischees nicht vor. Kallenberg ist stockkonservativ und seelisch leicht behindert, aber er ist kein Idiot. Er ist ein belesener, empfindsamer und begeisterungsfähiger Idealist. Natürlich wird er am Ende geläutert, und die Tragödie wird zum Aufklärungsstück.
Das Autorenphoto mag den einen oder anderen Leser übrigens stutzen lassen: Das ist doch ein höchst bekannter konservativer Publizist! Doch nein, es ist eine charmante optische Täuschung. Feldenkirchen, preisgekrönter Publizist und Romanautor, arbeitet seit vielen Jahren für das Hauptstadtbüro des Spiegel. Er wird seine Pappenheimer kennen.